Hans Rudolf Vaget, »Wehvolles Erbe«. Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann, Frankfurt am Main: S. Fischer, 2017, 481 Seiten plus 78 Seiten Apparat. Thomas Mann und die Musik – das heißt zuallererst Thomas Mann und Richard Wagner.
Kultur und Musik: wesentlich für Thomas Mann
Das Buch »›Wehvolles Erbe‹. Richard Wagner in Deutschland« von Hans Rudolf Vaget ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung des Autors mit deutscher Kultur im allgemeinen und mit Thomas Mann und Richard Wagner im besonderen. Als Kulturvermittler in den USA ist Vaget es gewohnt, das als selbstverständlich Hingenommene zu hinterfragen und so zu erklären, daß es auch denen verständlich wird, die es nicht als Eigenes internalisiert haben. Die Bedeutung Richard Wagners, des Geniekults und der Kunstmusik generell für das deutsche Bürgertum in den Zeiten der verspäteten Nationalstaatsbildung und den notwendigen Selbstvergewisserungsphasen zunehmender Modernisierung um die Jahrhundertwende und in der jungen Weimarer Republik sind heute in Deutschland hoch erklärungsbedürftig. Vaget ordnet hierzu ältere Annahmen und neuere Forschungsergebnisse ein und fügt sie zu einem aus seiner Sicht schlüssigen – und überzeugend geratenen! – Erklärungsstrang zusammen. Am Beispiel dreier Deutscher, die sich jeweils intensiv mit dem Werk Richard Wagners beschäftigten, untersucht Vaget die Wirkung und Wirkungsmöglichkeiten Wagners. Mann (geb. 1875), Knappertsbusch (geb. 1888) und Hitler (geb. 1889) wurden ungeachtet ihrer unterschiedlichen Lebenswege in den Kaiserreichen der Vorkriegszeit sozialisiert, erlebten in deutschen Opernhäusern die Musikdramen Wagners, erfuhren den Systemumbruch durch den Ersten Weltkrieg und die sozio-kulturellen Verwerfungen jener Zeit. Alle drei, so Vaget dezidiert und insoweit zustimmend zur neuen Hitler-Biographie Pytas, verhielten sich intellektuell und künstlerisch zu Wagner und ihrer Prägung durch den Ästhetizismus.

Richard-Wagner-Denkmal im Berliner Tiergarten | Foto: nw2016
In seinem Buch untersucht Vaget die mentalitätsgeschichtliche Wirkung Richard Wagners (S. 14), hierfür wählt er die Darstellung als Kampf um das Erbe (S. 478), personifiziert in Haltungen und Handlungen von Hans Knappertsbusch, Thomas Mann und Adolf Hitler, dem „erklärungsbedürftigste[n] aller Wagnerianer“ (S. 14). Hitlers ästhetische Prägung hatte viel von dem aufgenommen, was im deutschen Bildungsbürgertum des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts allgemein akzeptiert war: einerseits die Hochgeltung der deutschen Musik, andererseits den Geniekult, der sich zunächst an Goethe festgemacht hatte, sich dann aber vor allem an dem Komponisten Richard Wagner entzündete. Mit dem Festspielhaus in Bayreuth konnte er im jungen Deutschen Reich zum Nationalkomponisten avancieren; nach seinem Tod 1883 steigerte sich der Wagnerkult rasch.
Zwar galt die Musik ab circa 1913 zunehmend als unmodern, und der fünfzigste Todestag im Jahr 1933 mußte sich gegen ein kontinuierliches Verblassen der Bedeutung Wagners behaupten. Doch Hitler – treuer Besucher der Festspiele – erhob den Wagnerkult nach 1933 (und damit sehr anachronistisch; vgl. S. 244ff.) zur Staatsangelegenheit. Dabei hatte er freilich nicht den Rückhalt führender Nationalsozialisten: Alfred Rosenberg hielt Wagner für unzeitgemäß und überlebt, in der NS-Weltanschauung war trotz des Meisters Antisemitismus kein Platz für Wagners Werke (S. 22, 48f., 200).
Das Buch ist überreich an Thesen, Gedanken und Informationen – eine Rezension hier kann nur selektiv einzelne Punkte aufgreifen.
Wirkung und Einfluß
Sehr bedenkenswert finde ich die Ausführungen zu Wirkung und Einfluß. Vaget unterstreicht die persönlichkeitsbildende Bedeutung kultureller Faktoren (S. 69) – und bemängelt deshalb Hitler-Biographien, die sich unzureichend bis gar nicht mit der Bedeutung Wagners für Hitler beschäftigen. Gleichzeitig verweist er auf die in den Literaturwissenschaften formulierte Erkenntnis, daß Einfluß als Transaktion intellektueller Inhalte zu verstehen sei, die vom Empfänger gesteuert werde:
Tradition vermag sich nicht selbst zu tradieren. Sie setzt Rezeption voraus. (Zitat von H.R. Jauß, hier S. 53)
Was üblicherweise als Einfluss gehandelt wird, ist im Grunde genommen als Aneignung zu bezeichnen. Solche Aneignungen sind grundsätzlich zweckgebunden und somit selektiv; sie sind zudem durch den Zeitgeist gefiltert und auf die Bedürfnisse der Rezipienten zugeschnitten, so dass alles, was mit diesen Ideen im Prozess der Aneignung und Weiterverbreitung geschieht, auf das Konto des Empfängers, und nicht des Senders, zu verbuchen und von daher zu erklären ist. (S. 54)
Damit gerät die Wiener Zeit Hitlers in den Blick, der dort von 1908 bis 1913 lebte, sowie die Münchener Zeit aller drei Protagonisten. Die Wagnerverehrung war in beiden Städten als Geniekult sehr ausgeprägt. Zum Kult um gehört der selbstentmündigende Glaube an das Genie:
[E]ine Disposition, die wie geschaffen ist für eine autoritäre und charismatische Herrschaft, ja für eine Diktatur. Für die politische Kultur Deutschlands erwies sich der Genieglaube, der keineswegs auf die bürgerlichen Eliten begrenzt war, somit als eine kollektive Achillesferse. (S. 53)
Hier und im ja zutreffenden Hinweis auf die besondere politische Instrumentalisierung der Kultur in Deutschland (S. 61) klingt die These vom deutschen Sonderweg an, wozu auch die Anmerkung beiträgt, daß der Ästhetizismus in Frankreich und England ebenfalls gepflegt wurde, ohne daß dies zu vergleichbaren Konsequenzen geführt hätte (S. 77).
Ästhetizismus als geistige Lebensform
Diese Kunst- und Weltanschauung gedieh zwar in den Salons der adeligen und bürgerlichen Welt, stieß aber die Wertvorstellungen jener Sphären um und löste moralische Bindungen. Als intellektuelle Modeerscheinung der Jahrhundertwende (S. 75f.) war der Ästhetizismus für den um mehr als zehn Jahre älteren Thomas Mann Gegenstand bewußter Auseinandersetzung, Hitler und Knappertsbusch erlebten ihn – in unterschiedlicher Intensität – als geistiges Klima, in dem sie heranreiften.
Der Schriftsteller lieferte von den dreien die umfassendste Auseinandersetzung mit dem Ästhetizismus, wie Vaget kundig nachzeichnet. Thomas Mann führte diese Auseinandersetzung als Schriftsteller und als Bürger – und er führte sie vor allem auch mit seinem Bruder Heinrich. Und Mann verknüpfte diese Auseinandersetzung später mit seinem wichtigen Text über den deutschen Diktator, den er unter dem mutig-ehrlichen Titel »Bruder Hitler« im Jahre 1938 veröffentlichte.
Hitler begriff sich während seiner Wiener Zeit als Künstler. Er hatte zwar keinen Erfolg und lebte in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen, doch war und ist dies symptomatisch für viele Künstlerexistenzen. Neben dem „Schaffenstrieb von bescheidener Potenz“ auf dem Gebiet der bildenden Kunst müsse Hitler auf dem Gebiet der „Musik ein rein rezeptiver Kunstkonsum von unbegrenzter, aber auch undisziplinierter Empfindungsstärke“ zugebilligt werden (S. 91). Er entsprach damit der damals sehr populären Figur des modernen Dilettanten, der aus großer Hingabe an die Kunst starke ästhetische Empfindungen ableitete – man denke an Detlev Spinell in Thomas Manns Novelle »Tristan« (1903).
Vaget schildert Hitlers Leben bis zum Ersten Weltkrieg als Bildungsroman im klassischen Sinn und findet durch das Künstlerparadigma einerseits und die Rollenvorbilder Rienzi und Dr. Lueger (Oberbürgermeister von Wien) andererseits erstaunliche Parallelen zu literarischen Vorlagen. „Wie man wird, was man ist“ – diese Frage Friedrich Nietzsches hängt mit Blick auf Hitlers Persönlichkeitsbildung (Self-fashioning, S. 135ff.) nach Vaget eng mit Richard Wagners Opernschaffen zusammen.
Wagners Werk in Hitlers Lesart
Wagners Opern, insbesondere die genuin als Gesamtkunstwerke konzipierten Stücke zielen auf Überwältigung des Publikums. Dies ist eine Erfahrung, die auch heute noch Menschen überall auf der Welt machen. Die gigantische, mythisch aufgeladene Welterzählung des Rings strahlt höchste Faszination aus. Die Tristanerlebnisse nicht nur einer Generation sind Legion, die hier in Töne gesetzte Liebesraserei sprengte jede Konvention (s. a. S. 219). Mann griff etwa in den 1901 erschienen »Buddenbrooks« vielsagend auf die Tristanmusik zurück. Insofern steht Hitler nicht alleine da. Er war offenbar besonders aufnahmebereit, doch das hatte es schon früher, etwa bei Goethes »Werther« gegeben; die Überspanntheit, das eigene Leben nach einem Kunstwerk auszurichten, wurde ja nur durch die spätere politische Macht dieses Mannes so fatal.

Richard Wager, Tristan und Isolde. Beginn der Partitur | Foto: nw2018
Vaget erläutert nachvollziehbar, wie Hitler sich Wagners Werken näherte, sich dabei selbst als Künstler begriff, und er beschreibt, wie die Aufführungspraxis zwischen offener Indienstnahme und bewußter Vermittlung von Subtexten changierte. Die „protofaschistische Volksgemeinschaft“ (S. 177) der Meistersinger mit ihrem charismatischen Führer Hans Sachs nahm dabei einen hohen Stellenwert ein. „[D]as rauschhafte Zusammenspiel der Wagner-Verehrer und der Hitler-Verehrer“ (S. 192) sicherte dem Regime zunächst enthusiastische Zustimmung:
Wenn es den Abseitsstehenden außerhalb und innerhalb Deutschlands ein Leichtes war, den Schwindel zu durchschauen, so gibt es für den überwältigenden Erfolg, den die Ästhetisierung des politischen Lebens unter Hitler bei der Mehrheit der Deutschen hatte, nur eine plausible Erklärung: Die Täuschung gelang, weil die Mehrheit getäuscht werden wollte. (S. 210)

Richard-Wagner-Denkmal im Berliner Tiergarten | Foto: nw2016
Während des Krieges dann gewannen Siegfried und sein spezifisches Heldentum immense Bedeutung. Opferbereitschaft und Kriegsmoral wurden zu wichtigen Implikationen, an die allein mit der Beschwörung des deutschen Helden appelliert werden konnte, ohne daß es der Darbietung auf dem Theater – inklusive des schlechten Ausgangs – bedurft hätte.
Wagner nach Hitler?
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte Wagners Musik begonnen, unmodern zu werden; Hitlers Wagnerkult war davon unberührt geblieben und hatte sich mit dem harten Kern der eng-familiären Bayreuther Wagner-Gemeinde wechselseitig entzündet. Als Diktator hatte er Bayreuth am Leben halten und damit die künstlerische Bedeutung Wagners verlängern können. Warum verschwand Wagners Werk nach 1945 nicht von den Bühnen, kontaminiert durch die Begeisterung Hitlers, diskreditiert durch den Antisemitismus des Meisters selbst und durch die Hitleraffinität der tonangebenden Mitglieder der Familie Wagner?
Hans Knappertsbusch stand 1951 im Festspielhaus am Pult und dirigierte bei der Wiedereröffnung der Festspiele den Parsifal. Daß Wagners Musik überhaupt gespielt wurde, daß sie gerade in Bayreuth gespielt wurde und daß die Festspiele von den Wagnerenkeln Siegfried und Wolfgang geleitet wurden, die einst auf dem Schoß von „Onkel Wolf“ gesessen hatten: Das alles verdankte sich auch Männern wie Hans Knappertsbusch. In Gesellschaft, Politik, Justiz und Verwaltung, aber auch Unternehmen, Kirchen und Familien reagierte man mit einer Strategie des kollektiven Beschweigens auf die vergangenen zwölf Jahre; beinahe überall war ein Neuanfang ohne die „Belasteten“ nicht möglich.
Knappertsbusch genoß als Direktor der Bayerischen Staatsoper in München den Status einer musikalischen Autorität, er garantierte ein hohes musikalisches Niveau und akustische Vertrautheit – die notwendig war, um die szenischen Neuerungen Wieland Wagners abzufedern und das Publikum bei der Stange zu halten.
Vor seinem ersten Parsifal-Dirigat in Bayreuth hatte er das Werk 187 Mal aufgeführt – öfter als jeder andere Dirigent. (S. 295)
Knappertsbusch verstand sich bereits in der Weimarer Republik als Sachwalter des musikalischen Erbes von Wagner und stand dabei geistig der Bayreuther Welt- und Werksicht äußerst nahe. Unterstützung erhielt der „blonde, germanische Recke“ (Vaget) vom Völkischen Beobachter, der seine „geniale Intuition“ lobte, die dem „nordischen Blute“ eigen sei (S. 301). Vaget beschreibt die Aktion gegen Mann, den Protest der Richard-Wagner-Stadt München des Jahres 1933, als wohlkalkulierte Intervention Knappertsbuschs, um sich unter den geänderten Rahmenbedingungen der NS-Herrschaft für höchste Aufgaben am Pult des Festspielhauses zu empfehlen. Hitler – stilistisch offenbar moderner und (horribile dictu) kosmopolitischer als vermutet – schätzte jedoch Knappertsbusch Dirigate keineswegs und verschaffte ihm keine Einladung nach Bayreuth (S. 307).
Daß dieser Mann dann 1951 erneut in Bayreuth dirigieren durfte, verdankte er genau jenem Umstand – der mangelnden Protegierung durch den Führer, die später zur Grundlage einer „Lebenslüge“ (S. 322) wurde. Vaget zeigt auch auf, wie Knappertsbusch als einflußreicher Opportunist zwar nicht im eigentlichen Sinne schuldig geworden war, aber an seinen Ansichten nach dem Kriege festhielt (S. 321f.).
Daß Wagner nach Hitler noch möglich ist, liegt – so Vaget – daran, daß die Alt-Bayreuther Deutung und damit auch Knappertsbuschs Wagnerverständnis überwunden wurden. Eine musikalische Entschlackung und eine intellektuelle Deutung, zu der auch Thomas Mann entscheidend beigetragen hat, sind die Grundlagen der gegenwärtigen Bedeutung des Komponisten Richard Wagner.
Wird diese shakespearegleich fortdauern oder – Erdas Prophezeiung „Alles was ist – endet!“ gemäß – weiter verblassen?
Empfohlen sei an dieser Stelle ein Seitenblick auf den Essay »Sabbatstille und flammende Endlösung. Wie Richard Wagner die Juden hasste und zu respektieren lernte«, den Joachim Kaiser 1993 verfaßt hat, und der den zweiten Band von »Erlebte Musik« einleitet.
Knappertsbusch contra Mann

Hans Rudolf Vaget, „Wehvolles Erbe“ – Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann | Foto: nw2017
Doch der Stabilitätsanker der 1950er Jahre hatte seine eigene Vergangenheit. Der Dirigent hatte sich im symbolträchtigen Jahr 1933 an die Spitze des Protests der Richard-Wagner-Stadt München gegen Thomas Mann gestellt, der am 10. Februar 1933 einen Vortrag über Wagner an der Universität München – und danach in anderen europäischen Städten – gehalten hatte. Damit wurde im Ergebnis, so Vaget, das kosmopolitische Wagnerverständnis aus Deutschland vertrieben und die deutschtümelnde, antijüdische Bayreuther Lesart dominant (S. 258f.).
Das Unbehagen an der Moderne, die politische Kritik des unbequemeren Verteidigers der Weimarer Republik, die ästhetische Nähe zu den neuen Machthabern – all dies kam zusammen, um den Protest seitens führender Münchener Kulturkreise scharf und breitenwirksam zu formulieren.
Thomas Mann sollte auf diese Weise nicht mehr als deutsche Stimme anerkannt werden, seine Wagnerinterpretation als falsch, kosmopolitisch und letztlich undeutsch gebrandmarkt werden.
Der Schluss, den es hier zu ziehen gilt, ist ebenso ernüchternd wie beunruhigend: Die Nationalsozialisten waren in der Sache des Münchener Wagner-Protests in keiner Weise federführend. Die Aktion wurde von dem nicht nazistischen Establishment des Münchner Kulturlebens getragen. Der sie ins Werk setzte – berechnend und gezielt ins Werk setzte – war einer aus ihrer Mitte: der Münchner Staatsoperndirektor. (S. 265)
Und dieser präsentierte sich damit als wahrer Hüter des Wagner’schen Erbes, nicht infiziert wie der politisch und künstlerisch als unzuverlässig apostrophierte Nobelpreisträger. Vaget zeigt auf, daß unter den geänderten politischen Vorzeichen die geistig-kulturelle Weiterentwicklung Manns seit 1914 als Seitenwechsel und, schlimmer noch, (Gottes-)Lästerung empfunden wurde. Im Anschluß an Nietzsche begreift Mann Wagner als Kosmopolit, während die deutschen Wagnerianer, die Bayreuther vorneweg, ihn als Beweis für die künstlerische Überlegenheit der arischen Rasse und des Deutschtums schlechthin in Anspruch nehmen. Hochgefährlich aus dieser Sicht war Manns weiterer Vorschlag, Wagners Werk mit Freuds Brille zu studieren. Dies mußte bei den besorgten Wagnerianern Reizwörter wie jüdisch, materialistisch, marxistisch abrufen. Letztlich drohte damit eine „Verunreinigung“ der höchsten Hervorbringungen deutscher Kultur (S. 269ff.). Schließlich habe Knappertsbusch Mann – fälschlicherweise – vorgeworfen, daß dieser Wagners Genialität leugnete.
Gegenpositionen wurden vor allem in schweizerischen Zeitungen bezogen, eine öffentliche Gegenrede war in Deutschland schon nicht mehr möglich. Die Manns waren dem Exil näher gekommen. Dirigenten wie Gustav Brecher und Bruno Walter, die Schriftsteller Stefan Zweig und Julis Bab sowie der aus Bayreuth verstoßene Wagner-Enkel Franz W. Beiler versicherten Thomas Mann ihrer Solidarität und erklärten die Münchener Vorwürfe für haltlos.
Während Thomas Mann in Lugano noch über den „Choc von Ekel und Grauen“ klagte, erhielt er die knappe Mitteilung, daß ihn sein Rotary-Club ausgeschlossen hatte (S. 286). In seiner „Antwort an Hans Pfitzner“, die seinerzeit nicht veröffentlicht wurde, und in dem illegal in Umlauf gebrachten späteren „Bonner Brief“ – Reaktion auf die Aberkennung der Ehrendoktorwürde auch die dortige Universität – verwahrte sich Mann gegen die „nationale Exkommunikation“, betonte sein Deutschtum und verwarf die von den Nationalsozialisten behauptete Ineinssetzung mit Deutschland, die nicht von Dauer sein könne und vom Volk dereinst bereut werde. Exil und Kampf wurden für Mann zur Ehrensache (S. 292f.).
Thomas Mann und Richard Wagner
Mann war acht Jahre alt, als Wagner starb, und fünfundzwanzig Jahre alt, als Friedrich Nietzsche starb. Er erlebte dessen Gesinnungswandel vom Bewunderer zum Gegner des Komponisten, und er spürte der Faszination des Wagner’schen Werkes nach, die nicht nur Nietzsche, sondern auch er selbst empfand, und die er Passion nannte.
Nietzsche – und im Anschluß an ihn auch Mann – begriff Wagner als modernen westeuropäischen Décandencekünstler, womit er konträr zu Bayreuther Lesart von Wagner als dem deutschesten Deutschen stand. Zudem habe Wagner die Vergangenheit analysiert und nicht die Zukunft (= Hitler) beschrieben. Der Konflikt Manns mit Bayreuth habe somit mit Zwangsläufigkeit erfolgen müssen und sei im insoweit günstigen Klima der Machtergreifung dann eben auch geschehen (S. 336).
Mit der Musik selbst kam Mann als Heranwachsender in Lübeck in Kontakt, wo er als Kind eines bildungsbürgerlichen Haushalts Musikunterricht genoß und das Stadttheater besuchte. Wie Hitler wich er vor den harten Anforderungen eines Brotberufs in die Kunst aus. Anders als dieser verband er die rauschhaften Wagnererlebnisse – die für beide jungen Männer interessanterweise mit »Lohengrin« begannen – mit der Lektüre von Nietzsches Schriften. Und anders als Hitler vermag es Mann, das so Empfangene in die eigene künstlerische Produktion einfließen zu lassen. Ob »Der kleine Herr Friedemann« (1897), »Buddenbrooks« (1901) oder »Tristan« (1903) – Wagners Musik bricht gewaltsam ein in die bürgerlichen Existenzen, doch der Autor, in dessen Person zeitlebens der Bürger mit dem Künstler rang, kann dem ästhetischen Genuß moralische Überlegungen entgegensetzen. In »Gladius Dei« (1901) wird der Münchener Schönheitskult mit Kritik und Forderungen des Gewissens konfrontiert. Die Tristan-Novelle travestiert das Wagner’sche Opus und macht aus Tristan einen lebensschwachen Ästheten, geformt nach dem Bilde der Décadenceautoren, und Mann hält damit Gerichtstag über sich selbst. Vaget zeichnet nach, wie Mann nach dem Ersten und mehr noch nach dem Zweiten Weltkrieg kein Verständnis mehr hat für die „Todestrunkenheit“ von Wagners »Tristan«. Unverzichtbar und meisterhaft die nachfolgende Analyse von »Wälsungenblut«, einem äußerst ambivalenten Text des mittlerweile mit der Jüdin Katja Pringsheim verheirateten Schriftstellers. Hochspannend auch die Auswirkungen der Publikationsgeschichte des Werks auf die Herausbildung eines für Thomas Mann feindlichen Klimas (S. 384-395), das sich im Protest der Richard-Wagner-Stadt München entlud, sowie die Ausführungen zur Rezeption in der frühen Bundesrepublik.
Von genereller kulturhistorischer Bedeutung war im Deutschen Reich Wagners »Lohengrin«; Mann wie Hitler – dieser im alldeutschen Klima der Stadt Linz – lernten Wagner mit diesem Werk kennen. Das Vorspiel zur Oper war für Mann persönlich ein Stück Lebensmusik und galt ihm zeitlebens als Inbegriff, als Gipfel der Romantik (S. 401).
Die hier komponierte Ankündigung des Niedagewesenen (S. 403, Vaget zitiert hier eine eindrückliche Analyse der Ouvertüre von Reinhold Brinkmann) gelingt Wagner mit innovativen kompositorischen Mitteln und entfaltet eine ungeheure Wirkung auf empfängliche Zuhörer. Thomas Mann erkennt das Heilige, das Wesen der deutschen Kunst, Adolf Hitler den Auftrag, das Reich wundersam und als charismatischer Führer zu retten, und Heinrich Mann karikiert im »Untertan« das verstümmelte Banausentum des Wagnerkults im Kaiserreich. Hieran schloß sich eine weitere Verstimmung im komplizierten Verhältnis der ungleichen Brüder an.
Interessant ist die Schilderung, wie Mann im schweizerischen Exil im Beisein seiner Schwiegereltern 1936 die Rundfunkübertragung des Bayreuther Lohengrin hört, während dort Hitler im Publikum sitzt – mit Parallelität der Reaktionen auf die durch das Wiederaufmachen eines Strichs bewirkte Verlängerung der Gralserzählung (S. 407f.).
Mann hat Wagner aber nicht nur im erzählerischen Werk be- und verarbeitet, sondern er hat sie auch im essayistischen Teil seines Schaffens mit ihm auseinandergesetzt. Nun kommt u.a. der Text »Leiden und Größe Richard Wagners« in den Blick – womit sich auch der Kreis zum Protest der Richard-Wagner-Stadt München schließt. Vaget legt dar, wie Mann mit der Rede und dem deutlich längeren Essay einem westeuropäischen Publikum zeigen wollte, daß Werk und Person Wagners wesentlich vielschichtiger seien, als die verabsolutierende Lesart der Alt-Bayreuther und die daran anschließende reaktionäre Vereinnahmung durch die republikfeindliche Rechte vermuten lasse. Anhand der behandelten Beispiele wird die Entwicklung, die Manns Wagnerverständnis nahm – und fürderhin noch nehmen sollte – deutlich. Kriegsausbruch, Kriegsende und Holocaust sind Marksteine für Manns Nachdenken über Wagners Bedeutung für den von den Deutschen vorgenommenen Zivilisationsbruch.
Die grundsätzliche Beschäftigung mit den geistesgeschichtlichen Wurzeln des Nationalsozialismus im Künstlerroman des »Doktor Faustus« lenkt Manns Blick auf die Diskussionen in Nachkriegsdeutschland und die Strategien der Verarbeitung der zwölf Jahre durch die, die mitgemacht hatten. Am Beispiel von Emil Preetorius schildert Vaget diese wichtige Phase.
Als präzisem Kenner des Mann’schen Lebens und Werks gelingen Vaget diese Darstellungen, die den letzten Teil des vorliegenden Triptychons bilden, klar, prägnant und überzeugend. Verknüpfungen erscheinen selbstverständlich, Schlußfolgerungen logisch.
Fazit
So wie Mann – einem Wort Adornos zufolge – Nietzsche für die Humanität gerettet hat, so hat er auch – dieses Fazit kann man nach der Lektüre von Vagets Buch ziehen – Wagner für die Moderne anschlußfähig gemacht: vielschichtig, uneinheitlich, zweifelnd. Das Neu-Bayreuth Wieland Wagners ist durch diese Tür gegangen, und der Jahrhundert-Ring des Jahres 1976 – bezeichnenderweise zwei Franzosen anvertraut: Patrice Chéreau und Pierre Boulez – hat die Verbindungslinien zu Nietzsche, Schopenhauer und Marx prägnant herausgearbeitet.
Das Erbe, so scheint es, ist angenommen und produktiv weiterentwickelt worden. Dies setzt jedoch voraus, den ganzen Wagner zu sehen, sich der Person und seiner politischen Wirkung nicht zu verschließen zu sein, um dann – mit eingeschaltetem Bewußtsein – die Musik, ihre Schönheit und ihren künstlerischen Rang zu genießen.
Was fehlt? »Richard Wagner in Deutschland«, so heißt es im Titel. Doch die DDR kommt nicht vor, klingt lediglich in Frageform auf S. 470 an. Die Staatsoper Berlin wird 1955 wiedereröffnet, das Leipziger Opernhaus 1960. Gegeben werden beide Male »Die Meistersinger«; insgesamt zeigte man in diesem Teil Deutschlands seit Kriegsende rund 6.150 Wagner-Aufführungen in 309 Inszenierungen. 1972 kommt Götz Friedrich nach Bayreuth, 1978 Harry Kupfer. Ausgeschlagen hat der antifaschistische und sozialistische Staat das Erbe Wagners also keinesfalls.
In meiner mitunter überraschend gut ausgestatteten Bibliothek findet sich ein 1987 in zweiter Auflage im VEB Deutscher Verlag für Musik (Leipzig) erschienenes Buch: Richard Wagner, reich bebildert, mit Dokumenten, meist Briefe Wagners, und einer biographischen Skizze aus der Feder von Ester Drusche. Dort heißt es in wunderbarer Vereinnahmung:
Die Kunst stand in Paris, wie es Wagner erlebte, im Zeichen bürgerlicher Machtentfaltung. Das Juste-milieu des Bürgerkönigs gab den fruchtbaren Boden für eine außerordentliche Prosperität, die der Bourgeoisie die Voraussetzungen bot, ihre wirtschaftliche und politische Hegemonie durch Eroberung der gesellschaftlichen Statussymbole der Aristokratie zu stützen. Wagner widerstrebte es zutiefst, unter diesen Bedingungen die Kultur als Protegé der Bourgeoisie in exzessiven Tendenzen verflachen zu sehen. Der vordergründige Glanz und die Kunst-Wirtschaft des Juste-milieu, Virtuosen wie Dilettanten, Grand-opéra wie Salons stießen ihn in ihrer künstlerischen Unverbindlichkeit ab. Er sah sich außerstande, unter den gegebenen Verhältnissen mit seinen künstlerischen Intentionen zu antichambrieren und zog sich schon bald von der Pariser Kunstwelt zurück. (S. 13)
Stattdessen orientiert er sich in dieser Fremde an Mozart und Beethoven und entdeckt die deutsche Sagenwelt für sich (Drusche, S. 14f). Ausführlich wird auf seine in Zürich entstandenen theoretischen Arbeiten – an „Inhalt und Umfang jedes bei Komponisten gewohnte Maß überschreitende Auseinandersetzung mit seiner Zeit“ (ebenda, S. 19) – eingegangen. Die „übel beleumundete Schrift“ (ebenda, S. 20) »Das Judentum in der Musik« wird als Kapitalismuskritik gedeutet (ebenda, S. 21), befinde sich einerseits mit Marx (»Zur Judenfrage«, 1843) in guter Gesellschaft und andererseits sei es mangelnder „geistige[r] Delikatesse und … historische[m] Verständnis“ geschuldet, daß sich Wagners Erörterungen „auf rassistische Spekulationen ausdehnten“ (ebenda, S. 21).
In Anlehnung an Vaget könnte man dies auf die Formel: ein deutsches sozialistisches Genie komprimieren.
Mehr zu diesem Thema findet man etwa bei Werner P. Seiferth, Richard Wagner in der DDR – Versuch einer Bilanz, 2012.
Vagets Buch ist sehr lesenswert, regt zu kritischer Auseinandersetzung an – ich habe oft in andere Bücher geschaut, natürlich auch Mann gelesen und Wagner gehört – und verschafft gleichzeitig einen sehr guten Überblick über den Stand der Forschung. Am spekulativsten – oder positiv gewendet: am innovativsten – ist Vagets Deutung von Hitlers Künstlertum. Ich zitiere hierzu abschließend eine Bemerkung von Gisela Trahms aus ihrer Rezension von Marcel Beyers Buch »Das blindgeweinte Jahrhundert«, erschienen in Volltext 2/2017, S. 4-6 (S. 6):
Wahrheit, so wie dieses Buch sie aufblättert, ist nicht zu verwechseln mit Tatsächlichkeit, sie darf die subjektiven Urteile und die eingewebten Fiktionen nutzen.
Dies geschieht mit souveränem Zugriff, mit methodischer Offenheit und stringenter Argumentation. Dabei ist das Buch glänzend geschrieben und somit rundherum zu empfehlen.
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