Die Leben des Jacob

Christophe Boltanski, Die Leben des Jacob, 2021, dt. 2023 (aus dem Französischen von Tobias Scheffel), 206 Seiten.

Das Bild zeigt den besprochenen Roman. Auf dessen Cover sind viele Porträtaufnahmen eines Mannes zu sehen.

Das Buch hat für mich keine einfache, keine leichte Lektüre dargestellt. Es hat mich gefesselt, gefordert, schließlich begeistert. Worum es geht, lässt sich in einem Satz nicht zusammenfassen. Zu komplex, in zu viele Richtungen, in zu viele Dimensionen greift der Text aus.

Der Titel deutet dies ja schon an: „Die Leben des Jacob“. Im Buch heißt es einmal, dass die hebräische Sprache das Leben nicht im Singular, sondern nur im Plural kenne. Und die Geschichte, die der Autor hier erzählt, versucht dies zu belegen.

Der Autor bekommt zu Beginn ein besonderes, ja seltsames Album gezeigt, in das Portraitfotos eingeklebt sind, die in einem Automaten aufgenommen worden sind. Alle zeigen denselben Mann in unterschiedlichen Aufmachungen. Anmerkungen und eingeklebte Informationen ergänzen das Gesamtbild, werfen aber gleichzeitig neue Fragen auf. Wer war dieser Mann? Warum hat er diese Fotos, diese Art von Fotos, diese Vielzahl von Fotos aufgenommen? Wieso ist er so viel gereist? Und: Was ist aus ihm geworden?

Von Anfang an wird die Atmosphäre gut getroffen. Der sofort als französisch identifizierbare Stil trägt dazu eine ganze Menge bei.

Deine Brille mit großen ovalen Gläsern und dickem Gestell hast du abgenommen. Wie es üblich ist, zeigst du dein Gesicht frei, die Haut unbedeckt, den Blick offen. Du setzt dich schutzlos aus, so entblößt wie möglich, als ginge die Wahrheit deines Wesens davon ab, dabei manifestiert sich genau das Gegenteil. Unsere Appretur macht uns menschlicher, die Mittellosigkeit gleicht uns an. (S. 12)

Das Album, ein Flohmarktfund, soll Ausgangspunkt für einen Film oder ein Buch werden. Der Autor beginnt mit Recherchen. Immer wieder trifft er sich mit der Frau, die ihm das Album überlassen hat. Am Ende trennen sich ihre Wege im Streit über die Form der Verwertung und er setzt seine Recherche auf eigene Faust fort, aus Interesse an dem Schicksal und nicht mehr primär auf Verwertung bedacht.

Ohne irgendetwas zu wissen, was ist mit diesem Album und dem darin abgebildeten Mann auf sich haben könnte, beginnt der Autor zu spekulieren. Geht es auf den Fotos um die Veränderung oder um Vergänglichkeit? Zwar ist der abgedeckte Zeitraum der Fotos eher kurz, es lässt sich aber doch zeigen, dass die Zeit verstreicht. Erwähnt werden Haar- und Bartwuchs sowie Faltenbildung. Der Abgebildete zieht sich unterschiedlich an, scheint sich zu kostümieren, in Rollen zu schlüpfen und Posen einzunehmen.

Das Buch weist vielfältige Bezüge auf. Jacob wird als biblische Figur gesehen, seine vielen Umzüge mit den Irrfahrten des Odysseus verglichen, unausgesprochen ist er der ewige Jude. Aber er erinnert mich auch ein wenig an den Hochstapler Felix Krull. Und ohnehin schwebt die Suche nach der vergangenen Zeit, nach dem Abgebildeten, seinem Leben, seinem verlorenen Vater, nach der übrigen Familie über allem.

Die Rekonstruktion von Jacobs Leben ist schwierig, ebenso diejenige des Lebens seines Vaters, das aber den Schlüssel zu ersterem liefert. Die Familiengeschichte wird mühsam zusammengefügt, Schicksale enthüllt und immer wieder neue Facetten sichtbar. Jacobs Leben pendelt zwischen Unruhe und Zufriedenheit, zwischen enttäuschten Hoffnungen und neuen Aufgaben.

Jacobs Vater, den ich mir als bescheidenen Tankwart vorgestellt hatte, der mit ölverschmierten Händen gelegentlich eine alte Kerze reparierte, entpuppte sich als reicher Unternehmer. (S. 124)

Christophe Boltanski hat ein Buch geschrieben, das den Raum zwischen Erinnerung und Vergessen auslotet, daß Bruchstücke zu einem unvollständig bleibenden Ganzen zusammenzufügen versucht. Damit korrespondiert ein Text, der aus kurzen Absätzen besteht, aber aus diesen Mosaiksteinen am Ende ein vollständiges Bild zusammensetzt. Eindeutige Empfehlung!

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Freuden der Jugend

Denton Welch, Freuden der Jugend, 1945, dt. 1982 (aus dem Englischen von Carl Weissner), Neuausgabe 2016, 176 Seiten.

Das Buch wird als Wiederentdeckung eines britischen Schriftstellers vorgestellt. Tatsächlich ist der in jungen Jahren verstorbene Autor (1915-1948) mit einem verständlicherweise schmalen Oeuvre bereits in den 80er und 90er Jahren hierzulande verlegt worden, ohne sich jedoch dauerhaft in den Regalen der Buchhandlungen halten zu können.

Es handelt sich bei „Freuden der Jugend“ um einen kurzen Roman, in dem wir einen Fünfzehnjährigen während der letzten Tage seiner Sommerferien begleiten, bevor er zurück ins Internat muß. Zusammen mit dem Vater und seinen zwei Brüdern – die Mutter ist seit mehreren Jahren verstorben – verbringt er die Zeit in einem Hotel an der Küste. 

Die kleinen Erlebnisse zeigen einen phantasievollen Knaben auf dem Höhepunkt der Pubertät und in höchster Angst vor der Rückkehr ins Internat. Eine Reihe von Situationen und Mißgeschicken ist locker miteinander verknüpft und lassen den einen oder anderen Blick in eine verängstigte Knabenseele tun, dem in einer konventionell und unter Verzicht auf Gefühle lebenden Gesellschaft alles zur Not wird. Die Entdeckung der eigenen Sexualität, regelmäßiges Masturbieren, Begehren, Scham – Orvil changiert zwischen Alptraum und Unbedarftheit.

Die Handlung versammelt also eine Abfolge von objektiv meist folgenlos bleibenden Nichtigkeiten, die von Orvil selbst höchst unterschiedlich gewichtet werden und deren psychische Nachwirkungen unerwähnt bleiben und angesichts der Kürze des Erzählzeitraums auch bleiben müssen.

Sprachlich hingegen ist das Buch beeindruckend. Der Autor sieht jeden Gegenstand, jede Empfindung, jede Regung unmittelbar an und vermag alle Details intensiv und plastisch zu schildern. Die Sätze vibrieren vor Eindringlichkeit und die Passagen haben einen durchkomponierten, dabei aber völlig natürlich und selbstverständlich wirkenden Aufbau.

Als er aus dem dichten Gebüsch herauskam, gelangt er auf eine Terrasse mit einem Springbrunnen, dessen Wasser in ein großes rundes Becken fiel. Wunderschöne gelbrote Karpfen schwammen im Becken, und ihre flossen und Schwänze blitzen da und dort im silbern sprudelnden Wasser. Er fragte sich, wie sie das ständige Plätschern des herabstürzenden Wassers aushielten. Ihn selbst machte es nach einer Weile schon ganz taub und benommen, so daß er an den Rand der Terrasse ging und sich an die Balustrade lehnte. Blumen rankten sich zwischen den gedrungenen Pfeilen der Balustrade hindurch, und ein Meer von Blüten ergoß sich über die grob behauenen Steine nach unten. Der Anblick erregte ihn und machte ihn nervös und ungeduldig. Er streckte seine Augen an und sah über das weite Tal, in dem sich der Fluss durch massige dichtbelaubte Bäume wand.

S. 38f.

Britische Schriftsteller wie Edith Sitwell, William S. Burroughs, John Lehmann und Stephen Spender schätzten Welch und seinen Stil. Mir persönlich gefiel die Lektüre gut, ohne mich jedoch nachhaltig zu begeistern.

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Adas Raum

Sharon Dodua Otoo, Adas Raum, 2021 (ungekürzte Hörbuchfassung 2021)

Quelle: Verlag

Es geht um drei Frauen, drei Zeitalter und Länder sowie drei Gegenstände, die die Stationen begleiten.

So scheint es, denn später kommen unvermittelt eine weitere Frau, ein weiteres Zeitalter sowie ein Ort und ein Gegenstand dazu. Und Gott, Gott spielt auch eine bedeutende Rolle. Und überhaupt ist es immer die selbe Frau, und auch in allen Gegenständen steckt das selbe Wesen. Gott ist ohnehin vielgestaltig, lediglich ein Perlenarmband ist beständig.

Wir erfahren, was diese vier Frauen, die alle Ada heißen, erleben. Also nicht alles und nicht von jeder gleichviel. Erzählt wird von den Gegenständen, die sich als Ich-Erzähler gerieren, mitunter aber einschränken, daß sie nicht alles sehen oder hören was sich genau abspielt. Die Erzählerstimme des Gegenstandes, der immer wieder in die Zeit geworfen wird, bleibt rätselhaft. Es handelt sich um ein Objekt, dessen größte Sehnsucht darin besteht, geboren zu werden und einmal als Mensch – wobei offen bleibt, ob als sterbliche oder unsterbliche Person – eine Episode zu erleben. Dieses Objekt tauscht sich regelmäßig mit Gott aus, der entscheidet, wann und in welcher Gestalt Ada und der Gegenstand existieren.

Das Buch besitzt keine lineare Erzählstruktur, sondern mäandert in sogenannten Schleifen durch Raum und Zeit. Teil werden die Abschnitte erkennbar voneinander getrennt, mitunter fließen sie in einem Satz zusammen.

Ich war zuerst neugierig, dann enttäuscht, zum Schluß genervt. Das Buch steckt voller Klischees, segelt hart am postkolonialen Zeitgeist, gewürzt mit feministischen und antirassistischen Plattheitern. Wozu es eine NS-Episode hat, bleibt rätselhaft. Kraftvoll ist die Darstellung der Begegnung mit den portugiesischen Eroberern, doch bleibt sie mit dem Rest der Geschichte unverbunden und wird weder inhaltlich noch erzählerisch sinnvoll genutzt. 

Als Frau erscheint Ada seltsam auf Mutterschaft reduziert, wozu auch die fetischhafte Fixierung auf das Armband mit den Fruchtbarkeitsperlen hinweist.

Am Ende fließt alles zusammen, brachial von der Autorin herbeigewungen, grob zusammengerührt und ein letztes Mal ganz tief in die Klischeekiste greifend.

Nein, das war ganz sicher kein Buch für mich und ich kann es auch niemandem guten Gewissens empfehlen. Auf diese Entdeckungsreise begibt sich jeder auf eigenes Risiko.

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Caleb’s Crossing

Geraldine Brooks, Caleb’s Crossing, 2011

Neuengland in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts: Cynthia, die 14-jährige Tochter eines puritanischen Priesters erfährt die Beschränkungen, die Religion und Patriarchat ihr auferlegen. Sie erhält Bildung nur noch indirekt, nachdem sie als Neunjährige den Katechismus auswendig kann, was der Vater für ausreichend erachtet. Seither kann sie nur dem Unterricht lauschen, den ihr Bruder und andere Jungen vom Vater erhalten. Das entbehrungsreiche Leben dieser frühen Siedlergenerationen wird eindringlich geschildert.

Cynthia schafft sich – soweit dies für ein Mädchen überhaupt möglich ist – Freiräume und begegnet auf den hieraus resultierenden Spaziergängen einem gleichaltrigen Jungen aus dem Volk der Wampanoag. Die beiden bringen sich die Sprache des jeweils anderen bei und tauschen sich auch über ihre kulturellen Hintergründe aus. Der Junge, den Cynthia Caleb nennt, wird später von ihrem Vater unterrichtet und auf den Besuch des College vorbereitet.

Durch den Kontakt zu den Ureinwohnern beginnt sie, bisherige Glaubensgewißheiten zu hinterfragen, und spürt die Attraktivität des Animismus. Sie nimmt die Schattenseiten der eigenen Zivilisation wahr, die Ferne von der Natur. 

Die Lebensgeschichte Cynthias ist bewegt, voll Härte und Ungerechtigkeit gegen sie als Frau, aber schließlich auch erfüllt von Freundschaft und Liebe, gesegnet mit einem verständnisvollen Mann und einem starken Sohn. 

Die frühe Geschichte Harvards, die Versuche, Eingeborene zu bekehren und auszubilden, der Erfolg, der diesen Bemühungen beschieden ist, und die Tragik individueller Schicksale, vor allem von Frauen, – all das wird zu einem fesselnden Bericht, zu einer starken Mischung aus Resignation, Anklage und einem glaubensstarken Rückblick auf ein erfülltes Leben.

Das Ganze basiert auf der nur in Umrissen bekannten Lebensgeschichte von Caleb Cheeshahteaumauk – dem ersten Ureinwohner, der einen Abschluß am Harvard College machte – und spielt in Cambridge, MA, auf der Insel, die heute Martha’s Vineyard heißt und kurzzeitig auch in Boston und Italien.

In der von Jennifer Ehle gesprochenen Hörbuchversion wirkte der Roman auf mich sehr eindrücklich. Der deutsche Titel „Insel zweiter Welten“ ist stark auf die Insel fokussiert, obwohl ein großer Teil der Geschichte auf dem Festland spielt und die Begegnung dieser beiden Welten dort genauso problematisch ist. 

Nach meinem Eindruck steht die Erzählerin Cynthia stärker im Vordergrund als der junge Caleb, dessen „Übergang“ – Taufe und Bildungserwerb – ja am Ende scheitert und in seiner Sinnlosigkeit als Menetekel für potenzielle Nachahmer gesehen werden kann. Aber auch Cynthias Rebellion wird letztendlich eingehegt und bleibt gesamtgesellschaftlich betrachtet folgenlos. 

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