Schlaraffenland abgebrannt 

Michel Friedman, Schlaraffenland abgebrannt. Von der Angst vor einer neuen Zeit, 2023, 222 Seiten.

Michel Friedman, Schlaraffenland abgebrannt | Foto: nw2023

Eines ist sicher: Wenn jemand dieses Buch in dreißig oder fünfzig Jahren in die Hand nimmt, wird er nicht lächeln und sagen „Über was für Kinkerlitzchen hat man sich damals aufgeregt!“ Wenn es diesen zukünftigen Leser gibt und das Buch, ob im Antiquariat oder in einer öffentlichen Bibliothek frei zugänglich ist, dann ist alles doch nicht ganz so schlimm gekommen und die europäischen Gesellschaften haben damals, Anfang der 2020er Jahre, doch noch die Kurve gekriegt. Denn dieses Buch handelt von existentiellen Krisen und vom Nichtstun, von Lähmung, von Angst, von Gleichgültigkeit. 

Friedman schildert gegenwärtige und künftige Bedrohung von innen und außen, und er läßt uns seinen inneren Zwiespalt, das Hin-und-hergerissen-sein zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Wut und Fassungslosigkeit sehr nah miterleben. Friedman schreibt eindringlich, hämmert Sätze in appellativem Staccato, teilt gleichsam sein Herzklopfen. 

In vier Teilen (I – Ruhe bitte; II – Brandherde: Was wir nicht sehen wollen; III – Schlafmittel; Was wir tun, um nichts tun zu müssen; IV – Auswege: Worauf es jetzt ankommt) präsentiert Friedman einen flotten Mix aus Befürchtungen, Beobachtungen, Analyse und Appell. Vieles wird mehrfach wiederholt, manches als Dichotomie dargestellt – wodurch der Text genau jenen Eindruck  der bequemen Unentschiedenheit hervorruft, den Friedman der Gesellschaft – uns! – immer wieder vorwirft. Das Buch ist eine große, an das den Autor einschließende Kollektiv gerichtete  Selbstanklage, oftmals geprägt von Ratlosigkeit, immer wieder durchwirkt von dem Willen, nicht einfach aufgeben zu wollen, auch wenn es schlimm um uns steht.

Friedmann ist verzweifelt, ungläubig, traurig darüber, daß nichts passiert, daß zu wenige etwas tun, etwas ändern wollen, nicht sehen, nicht begreifen, nicht begreifen wollen, daß etwas getan werden muß.

Mehrfach plädiert er für die Neuentdeckung des lösungsorientierten Streitens, des konstruktiven Austauschs von Argumenten. Doch das bedeute, den zähen Brei des Schlaraffenlandes (von dem überdies die allermeisten gar nicht kosten dürfen) zu überwinden. Friedman übt harsche Kritik an dem Milieu, dem er selbst und wahrscheinlich die meisten seiner Leser angehören, an dessen Trägheit und Blindheit, Selbstgerechtigkeit und Saturiertheit. Gibt es einen Ausweg aus der selbstgebauten Falle?

Wir wollen nicht gestört werden. Wir wollen nicht bedrängt werden.Wir wollen von unseren bequemen Sesseln aus das Elend der Welt nicht sehen, nicht einmal das eigene. Wir wollen es bequem haben. (S. 25)

Wir sind lernfähig. Wir können uns verändern. Wir können Überzeugungen überzeugend demonstrieren. Wir müssen nicht statisch, wir können dynamisch leben. (S. 194)

Ich plädiere für einen skeptischen Optimismus. (S. 197)

Das Buch liest sich schnell und gut – einigen Wiederholungen, Pauschalisierungen und Widersprüchen zum Trotz. Viele Passagen habe ich zustimmend gelesen, andere mit Fragezeichen versehen, manchen widersprochen. Der Text ist lebendig, ein echter Friedman. Manche Passagen sind das Ergebnis langer, persönlicher Erfahrung oder intensiver Beschäftigung mit Texten und Sachverhalten, andere bieten eher Meinungen und Positionen dar, die sich auf die Teilnahme am oder das Verfolgen des öffentlichen Diskurses stützen. Diese werden dann geflissentlich von der in der Danksagung erwähnten Anne Jacoby mit Belegen unterfüttert.

Leseempfehlung!

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2 Antworten zu Schlaraffenland abgebrannt 

  1. Gabi Schoek schreibt:

    Danke für den interessanten Beitrag, der sich in ein Weihnachtsgeschenk für meinen Mann gewandelt hat 😉

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