Der andere Ort von Rachel Cusk

Rachel Cusk, Der andere Ort, 2021, dt. 2021 (aus dem Englischen von Eva Bonné), 205 Seiten.

„Was mich betrifft, so war ich mein Leben lang unbeliebt gewesen, selbst als kleines Kind.“ (S. 200)

Die Ich-Erzählerin beschreibt sich mit diesem Satz sehr treffend. Selten war mir eine Romanfigur von Beginn an und derart gründlich unsympathisch: eine furchtbare Frau! Dazu tragen ihre Charakterzüge bei, der Wille, alles zu analysieren und das ständige Reden. Denn sie spricht gleichsam ohne Luft zu holen.

„Immer wieder suchte ich das Gespräch mit Tony, ich verspürte das brennende Bedürfnis zu sprechen, zu analysieren und meine Gefühle aus mir heraus ins Freie zu stülpen, wo ich sie hätte sehen und von allen Seiten betrachten können.“ (S. 35)

Eine Frau, die nur als M bezeichnet wird, lebt mit ihrem Mann in einem einsamen Haus am Meer. In dem Gästehaus bringen sie auf Zeit immer wieder Fremde unter, endlich auch einen berühmten Maler namens L. Ihn zu beherbergen, war schon lange ein sehnlicher Wunsch von M. Doch als er endlich kommt, geht alles schief. Die Anwesenden, M, ihr Mann Tony, ihre Tochter und deren Freund sowie M und seine junge Begleiterin gehen sich gegenseitig gehörig auf die Nerven.

Schließlich gerät die Gesellschaft teilweise in Auflösung und Am Ende stirbt L.

M erzählt alles, was passiert und was sie sich vorstellt, einem Gegenüber namens Jeffers, ohne daß ersichtlich würde, wer diese Person ist und in welcher Beziehung sie zu den übrigen Personen steht.

Obwohl mir M gründlich unsympathisch war, gelang es ihr, mich mit ihrem Strom der Erzählung in den Bann zu schlagen. Das Buch ist fesselnd geschrieben, und ich konnte es kaum aus der Hand legen. Am Ende ist die Geschichte freilich dünn und es bleiben nur ein paar Aphorismen.

„Aber das Ich ist unser Gott, wir haben keinen anderen. (S. 179)

„Mütter sind so verlogen“, sagte er. „Die Sprache ist alles was sie haben. Wenn man es zulässt, füllen sie einen damit ab.“ (S. 119)

„Macht besteht zu großen Teilen aus der Fähigkeit zu erkennen, wie bereitwillig andere sie einem überlassen.“ (S. 94)

Alles in allem eine interessante Leseerfahrung, aber kein Buch, das mich angerührt oder auch nur überzeugt hätte.

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The Personal Librarian

Marie Benedict / Victoria Christopher Murray, The Personal Librarian, New York: Berkley 2021, 341 Seiten.

The Personal Librarian | Foto: nw2023

Das Buch erzählt die Lebensgeschichte von Belle da Costa Greene, der persönlichen Bibliothekarin von J. P. Morgan, dem New Yorker Multimillionär, der sie zum Auf- und Ausbau seiner Privatbibliothek einstellte.

Wir werden Zeuge der Entwicklung eines Arbeitsverhältnisses und der persönlichen Beziehung zwischen den beiden Protagonisten. Außerdem erfahren wir die Familiengeschichte von Belle und lernen all die Menschen kennen, denen sie auf professioneller und/oder privater Basis im Laufe ihrer Tätigkeit für die Bibliothek begegnet. 

Das Ganze wächst in ein gesellschaftsgeschichtliches und zeitgeschichtliches Panorama hinein. Erzählt wird die Geschichte der schwarzen Bürgerrechtsbewegung nach dem amerikanischen Bürgerkrieg und das erneute Aufflammen des Rassismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dies ist deshalb wichtig, weil Belle, ihre Mutter und die Geschwister als Weiße leben, während der Vater, der an seinen Idealen aus der Bürgerrechtsbewegung festhält, sich entschieden hat, als Schwarzer zu leben. Obwohl Belle als „white passing“ gelesen wird, lebt sie unter der beständigen Angst, enttarnt zu werden.

Sometimes, when I look at Teddy, with her light hair, alabaster skin, and pale eyes, I wonder if she knows about the violent origins of our white skin.

S. 65

Ein Strang der Erzählung ist der Welt des frühen englischsprachigen Buchdrucks gewidmet, der das besondere Interesse von J.P. Morgan und „seiner“ Bibliothekarin gilt. Eng damit verknüpft ist die Szene der Kunsthändler und Auktionshäuser, in der sich die Protagonisten mit wachsender Sicherheit bewegt, obwohl – oder gerade weil – sie als Frau dort besonders auffällt. Dabei macht sie in London eine neue Erfahrung:

But I could not have guessed London’s greatest gift. Here, as I walk the streets, I don’t feel the same assessment of my color that I routinely experience, and constantly anticipate, in America. Perhaps London’s citizens don’t have the same need to categorize us by race as they do in America.

S. 121

Wichtig ist aber auch die Familiengeschichte der Greenes, die von einer Phase der Liberalisierung nach dem amerikanischen Bürgerkrieg profitiert hatten, aber dann besonders unter der zunehmenden John-Crow-Politik litten. Dies führte auch zur Trennung der Eltern, weil die Mutter in den 1890er Jahren auf Sicherheit und bessere Lebenschancen statt auf den gefährlichen Kampf in der Bürgerrechtsbewegung setzte, wie es der Vater weiterhin tat.

Mit dem Tycoon des „Gilded Age“ muß Belle da Costa Greene, die naturgemäß aus vergleichsweise ärmlichen Verhältnissen kommt, beständig Kämpfe ausfechten, ohne dabei ihre Position aufs Spiel zu setzen. Wer hat das Sagen – Morgan oder „seine“ Bibliothekarin? Soll auch zeitgenössische Kunst angekauft werden? Wie selbständig darf sie agieren? Wird es eine Affäre zwischen den beiden geben?

Auch vor persönlichen Schicksalsschlägen bleibt Belle nicht verschont, als sie den Mann ihres Lebens kennenlernt (mehr wird hierzu nicht verraten). Aber davon macht sie sich schlußendlich frei, denn es gilt, ein Lebenswerk zu errichten und zu bewahren, geschaffen von einer – in ihren eigenen Worten – farbigen Frau.

Obwohl ich bei fiktionalisierten Lebensberichten grundsätzlich eine gewisse Skepsis habe, fand ich dieses Buch sehr gelungen. Vor allem ist den Autorinnen hoch anzurechnen, daß sie offenlegen, was sie aus dramaturgischen Gründen geändert und was sie hinzuerfunden haben.

Eine klare Leseempfehlung!

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Mein ist die Rache, …

… spricht die narzißtische Psychiaterin, die Verrat – den sie selbst und dazu allzu selbstherrlich definiert – nicht dulden kann.

Bild: Internet

Greer Hendricks / Sarah Pekkanen, Die Frau ohne Namen, 2019, dt. 20 (Übersetzung ), 375 Seiten. (Hörbuch gelesen von Dagmar Bittner und Yara Blümel, 12 Stunden 57 Minuten, aufgenommen 2021).

Genreunerfahren, wie ich bin, halte ich das für einen guten Psychothriller. Erzählt wird aus der Perspektive von zwei Frauen: Dr. Lydia Shields und Jessica Farris. Die junge Frau, die im Auftrag einer Kosmetikfirma einen mobilen Schminkservice anbietet, mogelt sich in eine psychologische Studie, weil sie die Möglichkeit nutzen möchte, unkompliziert Geld zu verdienen – doch dann kommt alles ganz anders!

Dr. Lydia Shields forscht auf dem Gebiet der Moral und will Probanden auf ihre Festigkeit hin testen. Doch die neue Studienteilnehmerin Jessica scheint ihr auch für private Untersuchungen höchst geeignet. Eine unglaubliche Geschichte um Schuld, Verstrickung und Eifersucht nimmt ihren Lauf und entfaltet eine große Sogwirkung. Wem kann Jessica vertrauen und wer will sie nur benutzen? Wer kann umgekehrt ihr vertrauen?

Ich habe mich sehr gut unterhalten gefühlt. Der Spannungsbogen blieb stets erhalten, auch über längere, ruhig erzählte Abschnitte hinweg. Die Geschichte nahm mehrere, für mich unerwartete Wendungen.

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Wer war eigentlich Lou Andreas-Salomé?

Wer war eigentlich …? Heute: Lou Andreas-Salomé

Die Aufnahme entstand 1897 im Atelier Elvira (München).

In einer kürzlich beendeten Lektüre – Andrew Nagorski, Saving Freud – kam sie vor: sie kannte Sigmund Freud, verkehrte mit ihm und arbeitete selbst als Psychoanalytikerin. In einem YouTube Kanal wurde sie kürzlich zitiert und ihre Hommage an Rainer Maria Rilke vorgetragen. 

Aber als ob Rilke und Freud nicht schon genug Stoff böten, da ist noch einiges mehr im Leben dieser interessanten Frau. 

Sie war eine Figur, die 19. und 20. Jahrhundert miteinander verband. 1861 in Sankt Petersburg geboren und 1937 in Göttingen gestorben, war sie ein Kind jener von Stefan Zweig beschworenen „Welt von Gestern“, die erst deren Ende und dann die Zerstörung ihres Erbes erleben musste. 

Aus privilegierter Familie mit französisch-russisch-dänisch-deutschen Wurzeln stammend, lebte sie selbst in Rußland, der Schweiz, Italien, Österreich und Deutschland. Dort hatte sie Aufenthalte und Bekanntenkreise in Berlin, Göttingen und München. 

Nachdem sie in Rom über die deutsche Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Malwida von Meyenburg Kontakt zu Friedrich Nietzsche und dessen Freund Paul Ree bekommen hatte, entspann sich zwischen den drei jungen Leuten eine besondere Ménage à trois. Nachdem Nietzsche unter dem Einfluß seiner Schwester dieses Dreieck verlassen hatte, lebten Salomé und Ree einige Jahre auf freundschaftlicher Basis in Berlin. 

Dort lernte sie den Orientwissenschaftler Friedrich Carl Andreas kennen. Dieser verfiel ihr und drohte, sich das Leben zu nehmen, sollte sie ihn nicht heiraten. Lou Salomé willigte ein. Doch die Ehe der beiden widersprach in jeder Hinsicht damaligen Vorstellungen: sie wurde nicht vollzogen, das Paar lebte in getrennten Wohnungen, und Andreas war zeitweilig von den schriftstellerischen Einkünften seiner Ehefrau abhängig. Die Ehe hatte allerdings bis zum Tode von Andreas, der 15 Jahre älter war, Bestand.

Mit Rilke unterhielt sie zunächst eine Liebesbeziehung, dann, von 1901 bis zu Rilkes Tod 1926, eine enge Freundschaft. Über einen späteren Liebhaber kam Andreas-Salomé dann mit Sigmund Freud in Kontakt. Sie hörte seine Vorlesungen, besuchte die so genannten Mittwochsgesellschaften. Als Schülerin und zeitweilige Patientin Freuds baute sie eine langjährige platonische Beziehung zu ihm auf, die bis zu ihrem Lebensende anhalten sollte. 

1915 eröffnete sie in Göttingen eine psychoanalytische Praxis. Als sich Andreas-Salomé 1930 im Krankenhaus befand, besuchte ihr zu diesem Zeitpunkt schon sehr alter Mann sie sechs Wochen lang täglich. Dies kann als Beleg dafür dienen, dass sich ihr Verhältnis zueinander gebessert hatte. 

„So dauerhaft beweist sich doch nur das Echte“, kommentierte auch Sigmund Freud diese Entwicklung brieflich. 

Friedrich Carl Andreas starb noch 1930. Lou Andreas-Salomé, deren Gesundheitszustand sich seither weiter verschlechterte, folgte ihm 1937 nach. 

Wenige Tage nach ihrem Tod wurde ihre Bibliothek von den Nationalsozialisten beschlagnahmt. Die Psychoanalyse galt den Nazis als jüdische Wissenschaft. Freud konnte mit Unterstützung aus dem Ausland Wien einige Zeit nach dem Anschluß Österreichs nach London verlassen, wo er kurze Zeit später starb.

Lou Andreas-Salomé hat von 1885 bis 1931 neunzehn Texte veröffentlicht, überwiegend Bücher. Hierzu gehören Erzählungen und Romane, etwa „Ruth“ oder „Aus fremder Seele. Eine Spätherbstgeschichte“, aber auch nicht-fiktionale Texte wie „Nietzsche in seinen Werken“ oder „Mein Dank an Freud“ – das letzte zu ihren Lebzeiten erschienene Werk.

Aus dem Nachlaß wurden vor allem Tagebücher und zahlreiche Briefwechsel publiziert. Sie selbst ist – dank ihres bewegten Lebens – Gegenstand vieler Veröffentlichungen und Biographien. Giuseppe Sinopoli komponierte eine Oper auf sie, die 1981 in München uraufgeführt wurde; im Jahr 2016 erschien ein Film.

Aus dem 19. Jahrhundert stammend, war sie aber auch an der Entwicklung der europäischen Moderne in der Zeit um die Jahrhundertwende und dann in der Zwischenkriegszeit mit den sich nun auch für Frauen stärker bietenden Möglichkeiten beteiligt. Für die Erforschung der Kulturgeschichte jener Jahrzehnte kommt ihr eine hohe Bedeutung zu.

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