Musik- und Literaturkritiker: Joachim Kaiser

Joachim Kaiser starb am 11. Mai 2017 im Alter von 88 Jahren.

Wer sich für klassische Musik und Literatur interessiert, kommt an seinem Namen und an seinem Wirken nicht vorbei.

Er war einer der großen drei. Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser und er, Fritz J. Raddatz, sie waren die Großkritiker der Nachkriegzeit [sic].

So beginnt ein Nachruf auf Fritz J. Raddatz in der taz vom 26. Februar 2015. Doch nicht um ihn soll es hier gehen. Der 1928 geborene Joachim Kaiser ist einer der großen Kulturjournalisten der Bundesrepublik, der seit 1951 für rund sechzig Jahre als maßgeblicher Musik-, Theater- und Literaturkritiker, aber auch als breitenwirksamer Volkspädagoge mit Vorträgen, Rundfunk- und Fernsehbeiträgen gewirkt hat.

Die zweibändige Textsammlung „Erlebte Musik“ steht immer griffbereit in meinem Regal, neben der ersten Auflage von Jürgen Kestings „Großen Sängern“. Kaiser schildert und bespricht Konzerte und Plattenaufnahmen stets mit Verve, voller Kenntnis und Liebe zur Musik. Vor einiger Zeit hörte ich die Einspielung der Kreisleriana von Wilhelm Kempff und las zur Einstimmung Kaisers Text vom 18. März 1971, der drei Neueinspielungen gewidmet war:

Alles in allem ist die Aufnahme von Horowitz wohl doch die «interessanteste». Aber weder Horowitz noch Rubinstein, noch Dinorah Varsi vermögen die großen, bereits existierenden Einspielungen der Kreisleriana (Wilhelm Kempff, Géza Anda, von Älterem ganz zu schweigen) überflüssig zu machen.

Danach las ich die „Robert Schumanns Kühnheit“ betitelten siebzehn Seiten und dachte spontan, ich müsse einen Blogeintrag zu Kaiser schreiben.

Da machten sich Lesefrüchte der letzten Zeit positiv bemerkbar; Hans Werner Richter und Fritz J. Raddatz hatten Kaiser erlebt sowie mehrfach in Tagebuch und Erinnerungen erwähnt. Keineswegs nur schmeichelhaft, wie ich mich erinnerte. Richter, der den jungen Kritiker eingeladen hatte, an den Treffen der Gruppe 47 teilzunehmen, charakterisierte ihn als „dümmlich“ und – wie Marcel Reich-Ranicki, Hans Mayer und Walter Jens –  „besessen von Geldsucht – was ich ihnen nicht vorwerfe – von Ehrgeiz, Ruhmsucht und von der Eitelkeit jenes Mannes, der nur in immer erfolgreichen Kreisen mitarbeitet oder sich nur in solchen Kreisen zeigt“. Richter wirft allen vieren vor, sich als Kritiker wichtiger zu nehmen als die Autoren.

Unter dem 4. Januar 1967 ärgert sich Richter über einen Artikel Kaisers („Waren die Musen diesmal emsig?“) – „was für ein altbackener, biedermeierlicher Titel“ –, in dem dieser eine Reise der Gruppe an die Universität Princeton behandelte. Am Ende fragt sich Richter: „Oder ist er doch nur ein Provinz-Feuilletonist, den ich überschätzt habe?“

Doch zu Kaisers vierzigstem Geburtstag verfertigte Richter ein Gedicht und trug es auf der Feier vor:

Unter den Großkritikern
ist einer der Kaiser,
über den zweifelnden Königen einer
der nie vergisst, andere zu ihrem Geburtstag
zu preisen, hier mit bedingtem Lob und dort
mit verhaltenem Tadel […]

Warum soll ich ihm meinerseits nicht schon
heute einen Geburtstagsgruß schreiben,
in dem ich sage, was ist, nämlich, daß er
Hans Joachim Kaiser ist, was er ist, voraussichtlich
bleibt, was er ist, und wenn er bleibt, was er ist,
später noch sein wird, was er ist, einer, der
hoffentlich nicht vergisst, daß niemand über
den Schatten springt, den er, ohne es zu wissen,
in die Sonne der anderen wirft.

Es gefiel Kaiser nicht, wie das Tagebuch Richters festhält, denn: „Er kann nicht über seinen Schatten springen. Es ist der Schatten eines Snobs.“

Fritz J. Raddatz, der Berliner aus Tempelhof, der sich in den Wirren nach 1945 durchschlug und über Pastor Mund, seinen späteren Vormund und Liebhaber, in Kontakt mit der SED geriet, blieb bis Ende 1958 in der DDR. Dort wurde er Lektor des Verlages Volk und Welt und wandte sich vom DDR-Sozialismus ab. In der Bundesrepublik wurde er  Cheflektor des Kindler Verlages – trotz innerer Vorbehalte gegenüber dem Lebensstil der Kindlers (die freilich nicht lange währen sollten). FJR berichtet mit hochgezogenen Brauen in seinen Erinnerungen über neureiche Genußsucht:

Der Geldsegen seines »Mädchen Rosemarie«-Films hatte ihm [Erich Kuby] eine protzige Villa in Münchens teuerstem Vorort beschert, geranienbepflanzte Bar inklusive, in die er mich einlud: An zwei Flügeln spielten er und Joachim Kaiser »Zum Einzug des Russen in München«. Es gab Champagner.

FJR überredet Kindler, die dreibändige Auswahlausgabe der Schriften von Karl Marx herauszubringen:

Nur wußte ich nicht, wer eine solche Edition betreuen könnte. Ein Redakteur der Süddeutschen Zeitung meinte nach einigem Nachdenken, es gebe da einen jungen Adorno-Assistenten, allenfalls der käme in Betracht. Als ich dem am Telefon mein Anliegen vortrug, war sein erster Satz: »Sie müssen ein mutiger Mann sein.« Der Redakteur hieß Joachim Kaiser, der Assistent hieß Jürgen Habermas.

Kaiser lud FJR ein, in der Süddeutschen Zeitung über DDR-Literatur  und DDR-Kulturpolitik zu schreiben.

Mit gesunder Übertreibung könnte ich sagen, Kaiser ist der Vater meiner Habilitationsschrift. Jedenfalls war er – brillant, witzig, stilempfindlich und reaktionsgeschwind – der ungekrönte König der Kritiker.

FJR erlebte während einer Krise im Jahre 1979, längst schon bei der ZEIT, Kaiser als loyalen Freund. 1991, zu FJRs sechzigstem Geburtstag, hielt Kaiser eine Geburtstagsrede (s.o.) – im dreiunddreißigsten Jahr ihrer Freundschaft! – die Raddatz in seinen Erinnerungen abdruckte.

Man sieht Kaiser also früh zentral positioniert und dauerhaft gut vernetzt; beste Voraussetzungen für das lange und einflussreiche Wirken. Wolf Jobst Siedler erwähnt in seinen Erinnerungen die Jugend zahlreicher Akteure in der jungen Bundesrepublik: Friedrich Luft, Johannes Gross, Joachim Fest, Joachim Kaiser und er selbst: alle zwischen Sechsundzwanzig und Anfang Dreißig:

Wahrscheinlich verdanken wir unseren frühen Start nicht so sehr unserer hervorstechenden Begabung, sondern dem Umstand, dass Millionen unserer Generation gefallen, andere Millionen noch in russischer und französischer Gefangenschaft – die Amerikaner und Briten hatten ihre Kriegsgefangenen bereits entlassen – und viele der nationalsozialistischen Zeit wegen belastet waren. So griff man nach denen, die vorhanden waren, und wir hatten das Glück, da zu sein.

In seinem wunderbar informativen und aufschlußreichen Buch „Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde“ (2004) porträtiert Joachim Fest Kaiser zu dessen sechzigstem Geburtstag im Jahre 1988.

Ihre beneidenswerte Fähigkeit, alles oder doch das meiste in Genuß zu verwandeln. Das gilt nicht nur für einzelne, aus sauren Arbeitswochen herausgehobene Fest wie das heutige hier. Vielmehr haben Sie aus Ihren genießerischen Vorlieben ein ganzes reiches Leben gemacht.

Wir sind Generationsgenossen. Mir wurde das noch einmal deutlich bei der Lektüre von Joachim Kaisers so kluger wie einfühlsamer Erlebten Literatur, wo er über die Bücher und die Autoren schreibt, die sein Leben begleitet haben. Es sind zeitweilig auch die meinen gewesen. Aber mich und viele andere haben die damals noch sehr gegenwärtigen Erfahrungen mit der Vergangenheit auf mehr ins Historische weisende Wege gedrängt. Ihn hingegen nicht. Joachim Kaiser ist bei seinen Vorlieben geblieben: Musik, Literatur, Theater, Philosophie.

Fest rühmt die Belesenheit, die Hörerfahrung, den Kenntnisreichtum Kaisers. Er lobt seine Fähigkeit zu Staunen, ob glücklich bewahrt oder bewußt erworben, die Verve seiner Formulierungen, die Frische Kaisers.

Dieser selbst bilanzierte 2006 in einem Radiogespräch, wer Kritiker sein wolle, müsse einen übersteigerten Äußerungstrieb haben, müsse Stellung zu dem Gesehenen, Gehörten, Gelesenen nehmen wollen. Bald darauf erschienen die als Zwiegespräch mit der Tochter angelegten Erinnerungen. „Das sind launige Mitteilungen aus fernen, vergangenen Tagen, graumelierte Erzählprosa zum Wohlfühlen.“ – So ordnete Werner Theurich die 2008 erschienen, sehr lesenswerten Memoiren Kaisers im Spiegel ein und wirkt dabei erschreckend gestrig in seinem eher jämmerlichen Versuch, heutig zu sein. Freilich sind die Memoiren keine getreue Chronik, sondern eine persönliche, auch eitle und inszenierte Erzählung. Das haben Memoiren allerdings so an sich.


Ausgangspunkt dieses Blogposts war Schumann. Über ihn schreibt Kaiser in dem bereits erwähnten Text „Robert Schumanns Kühnheit“ mit erkennbarer Begeisterung:

Wer irgendwann einmal von Robert Schumanns Musik berührt, gebannt und entflammt wurde, wer sich daraufhin in einen lebenslänglichen Schumannianer verwandelte, wem kein Schumann-Liederabend zuviel wurde, keine Darbietung des Klavierkonzerts, des Cellokonzerts, der Symphonien und erst recht keine einigermaßen kompetente Interpretation der Kreisleriana, des Carnaval, der Symphonischen Etüden oder der Fantasie – der ahnt gewiß, wie schwer es ist, Schumanns Kunst angemessen zu preisen.

Er charakterisiert den Menschen Schumann – auch durch das Urteil seiner Zeitgenossen – mit teils gegensätzlichen Attributen, betont seinen Stolz, seine Schüchternheit, seine Intelligenz, die genialisch-jünglingshafte Reinheit. Wie Wagner, der nichts von ihm hielt, verabscheute Schumann Meyerbeer; Nietzsche verachtete Schumann; Liszt widmete ihm seine h-Moll-Sonate von 1853. Schumann litt darunter, daß er oftmals nur als Ehemann der anerkannten Pianistin Clara wahrgenommen wurde.

Kaiser analysiert den Kompositionsstil Schumanns und thematisiert seine journalistischen  Texte und Kritiken:

Er war unser größter Musikkritiker, eben weil er mehr gewesen ist als nur ein Musikkritiker.

Kaiser selbst wirkte als ein einflußreicher Kritiker und Journalist, dem die Kultur am Herzen lag. Keineswegs der Verrisseproduzent, den Georg Kreisler einst so wunderbar besang:

Heute findet jede Zeitung
Größere Verbreitung durch Musikkritiker,
Und so hab auch ich die Ehre
Und mach jetzt Karriere als Musikkritiker.
Ich hab zwar ka Ahnung, was Musik ist,
Denn ich bin beruflich Pharmazeut,
Aber ich weiß sehr gut, was Kritik ist:
Je schlechter, um so mehr freun sich die Leut.
Es gehört zu meinen Pflichten,
Schönes zu vernichten als Musikkritiker,
Sollt ich etwas Schönes finden,
Muß ich’s unterbinden als Musikkritiker.
Mich kann auch kein Künstler überlisten,
Da ich ja nicht verstehe, was er tut.


Verwendete Literatur:

Henriette Kaiser, Joachim Kaiser: Ich bin der letzte Mohikaner, 2008

Joachim Kaiser, Erlebte Musik, 2. Bde, erw. u. überarb. Aufl. 1994

Hans Werner Richter, Mittendrin. Die Tagebücher 1966-1972, hrsg. von Dominik Geppert, 2012

Fritz J. Raddatz, Unruhestifter. Erinnerungen, 3. Aufl. 2011

 

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8 Antworten zu Musik- und Literaturkritiker: Joachim Kaiser

  1. saetzebirgit schreibt:

    Lieber Norman, da hast Du einen feinen, runden Beitrag über Joachim Kaiser geschrieben, der ihn auch als Person gut greifbar macht.

    • nweiss2013 schreibt:

      Liebe Birgit, vielen Dank. Ich habe mich bemüht, aus einer spontanen Idee einen Text ruhig zu erarbeiten, ohne die Bewunderung, die ja am Anfang stand, zu ersticken. Beste Grüße!

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  3. Mannigfalter schreibt:

    Dingrah Versieh?? –> Dinorah Varsi

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  6. Pingback: Joachim Fest, Begegnungen | notizhefte

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