Die ungleichen Brüder: Thomas und Heinrich Mann

Helmut Koopmann, Thomas Mann, Heinrich Mann: Die ungleichen Brüder, 2005 (Tb. 2015), 502 S. (plus 24 S. Apparat).

Heinrich (* 27. März 1871 in Lübeck; † 11. März 1950 in Santa Monica, USA) und Thomas (* 6. Juni 1875 in Lübeck; † 12. August 1955 in Zürich) Mann sind zwei wichtige deutsche Schriftsteller mit Lebensstationen in der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und dem Exil. Sie waren als Brüder miteinander verbunden, unterschieden sich aber in Persönlichkeit, Lebensführung, politischer Einstellung (meistens), Werk und Wirkung. Hier setzt die Studie des Literaturwissenschaftlers Koopmann an, in der er das Werk beider Autoren unter dem Blickwinkel ihrer Bruderbeziehung erörtert.

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Julia, Thomas, Carla und Heinrich Mann, um 1889  – aus: Wysling/Schmidlin (Hrsg.), Thomas Mann, Ein Leben in Bildern, 2. Aufl. 1994

Dabei will Koopmann in erster Linie Heinrich Mann zu seinem Recht verhelfen, den er zumindest für die Zeit bis zum Ende des Kaiserreichs für den produktiveren, originelleren und frischeren Autoren hält. Die Kritik von Thomas Mann an seinem Bruder stellt Koopmann als haltlos und vorgeschoben dar, den Jüngeren persönlich als schwach und stabilisierungsbedürftig, inhaltlich vollziehe er oft nur Anregungen Heinrichs nach.

Thomas nahm die Wirklichkeit wahr, wie sie war – Heinrich, wie sie eigentlich war.
(S. 150)

Auch die politisch-gesellschaftliche Differenz der beiden Brüder zeigt sich früh. Heinrich schreibt 1903:

Was Dich lenkt, Dich stärkt, Dich beherrscht wie eine Macht, ist, wie wir wissen, das heutige Deutschland, das chauvinistische und darin reaktionäre Deutschland Wilhelms II. (S. 152)

Das Buch erscheint, vor allem mit Blick auf Kaiserzeit und Ersten Weltkrieg, als harsche Abrechnung mit Thomas Mann. Dieser verstehe die Texte von Heinrich nicht oder bewußt miß, meide eine echte inhaltliche Auseinandersetzung, brauche und konstruiere die Verschiedenheit. Die Sympathien Koopmanns sind deutlicher auf Seiten Heinrichs, der verteidigt und häufig als Opfer der Angriffe und Selbstfindungsstrategien des Bruders dargestellt wird. Thomas Mann wird immer wieder „enttarnt“, seine Texte auf nicht eigenständige Repliken reduziert. Kritik an den Schriften von Heinrich Mann ist äußerst selten; etwa mit Blick auf »Die Göttinnen« ist von „[e]rotische[m] Kitsch der Jahrhundertwende“ (S. 136) die Rede.

Die Kritik Heinrichs an Thomas zu dessen verstiegener Positionierung im Jahr 1914, die zudem die gesamte Dauer des Krieges aufrechterhalten wurde, ist nicht nur legitim, sondern auch aller Ehren wert, weil sie eine mutige, dem Zeitgeist entgegentretende und damals keineswegs weit verbreitete Haltung war. Koopmann hingegen richtet aus der bequemen Position des Nachgeborenen.

Überhaupt ist seine Sicht des Kaiserreichs verengt; er reduziert Land und geistiges Klima auf Gründerkapitalismus, Borrussismus und OHL-Diktatur bei gleichzeitigem, konsequenten Ausblenden dessen, was es eben auch gab:

  • steigende Lebenserwartung
  • Wohlstandsentwicklung breiterer Schichten
  • Bildungsreformen
  • Forschung und Wissenschaft
  • Gesetzesstaatlichkeit

Darüber kann man etwa bei Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, 1990, ohne großen Aufwand viel Differenziertes erfahren. Gerade zur Schule, die in frühen Büchern beider Brüder bekanntermaßen eine wichtige Rolle spielt, äußert sich Koopmann pointiert. Nipperdey schreibt:

Über dem kritischen Blick auf den Wilhelminismus, die Enge und Pedanterie der höheren Schule und den Oberlehrer-Nationalismus, die Beschränkungen und die autoritäre Untertanenerziehung der Volksschule vergißt man leicht das Gegenbild: Modernität, Fortschreiten und Reform. Wir haben von den neuen Typen und der sozialen Öffnung der höheren Schulen und der Gleichberechtigung der Mädchen gesprochen, vom Ausbau der differenzierten und modernisierten Volksschule, der Begründung der Berufsschule. Jetzt muß vom Reformklima und Reformbewegungen im Jahrzehnt vor 1914 die Rede sein. Alles, was nach 1918 in der Weimarer Zeit in und mit den Schulen geschieht, hat hier seinen Ursprung und ist nicht nach dem Weltkrieg „vom Himmel gefallen“. Der Staat war nicht so vertrocknet, wie es manchmal erscheint. Zwischen Ministerien, Universitätslehrern für Pädagogik, den Schulleuten, die gerade in städtischen Systemen Möglichkeiten zu selbständigem Handeln hatten, und der Öffentlichkeit der Schulinteressierten geht die Diskussion über Reformen weiter – um 1900 gibt es etwa 400 pädagogische Zeitschriften! –, und es entsteht manches Neue. Alle pädagogischen Überlegungen kreisen darum, was die Forderungen der Zeit sind, wie man Erstarrung verhindert, und darum, was die sozial gerechte Leistung der Erziehung sein soll. (S. 563)

Daß weder Thomas noch Heinrich Mann, ihre eigenen, anderthalb Jahrzehnte zurückliegenden Schulerfahrungen verarbeitend und damals noch ohne schulpflichtige Kinder, davon nicht zwingend Kenntnis hatten, ist verständlich. Aber Koopmann, der in diesem Zusammenhang deutlich (S. 167, 172)  von heraufdämmernden Diktaturen spricht, die Thomas Mann anders als sein Bruder nicht erkannt habe, greift an Stellen wie diesen einfach zu kurz.

Daß es sich bei Nationalismus und Kapitalismus um gesamteuropäische Phänomene der Zeit handelte, übersieht Koopmanns geflissentlich, daß die Elitenherrschaft in den Demokratien Frankreich und Großbritannien der deutschen verwandter war, als das altertümliche Hofzeremoniell Berlins vermuten ließ, blendet er aus. Der große Zola-Essay Heinrich Manns wird kein einziges Mal genutzt, um ein Wort über die illiberalen gesellschaftlichen Hintergründe der Dreyfus-Affäre zu verlieren. Diese Betriebsblindheit des Literaturwissenschaftlers bei gleichzeitig apodiktischen Urteilen hat mich gestört.

Die Untersuchung hätte denn auch durch eine breitere und erkennbarere Abstützung durch Quellen gewonnen. Zwar werden Bücher und Briefe der Brüder Mann sowie einige wenige Werke zitiert, doch ansonsten gibt es einen bequemen Pauschalverweis qua Danksagung.

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Foto aus dem behandelten Buch, nw2016

Rundum überzeugend geraten Koopmann hingegen Darstellung und Analyse der »Betrachtungen eines Unpolitischen«, hier argumentiert er nachvollziehbar und erläutert dieses Ungetüm von Buch souverän. Überraschend kurz äußert sich der Autor zum Zauberberg, dessen Beitrag zum ewigen Bruderdialog er aber doch ausmacht und weitgehend pointiert darstellt. Die Passage über die Korrespondenzen von »Zauberberg« und »Untertan« (S. 346f.) hingegen hat mich nicht überzeugt, zu sehr wird hier der Roman Thomas Manns zum wortreichen und nachgereichten Abklatsch auf das prophetische Werk seines Bruders verzerrt.

Bereits in den Jahren des Exils erschienen »Joseph und seine Brüder« und »Henri Quatre«. Hier geheimnist Koopmann für meinen Geschmack recht viel Parallelen in beide Romane hinein, die zwar keinen Dialog der Autoren belegen, für ihn aber ein Aufeinanderbezogensein denkbar machen. Immerhin gibt er zu, daß er spekuliert (S. 355f.).

Das Exil in Europa vor dem Kriegsausbruch führte zu einer persönlichen Annäherung der Brüder, verbunden mit einem Wohlwollen gegenüber dem Werk und dem politischen Verhalten des anderen. In Amerika verändert sich beider Stellung in der öffentlichen Wahrnehmung und nachfolgend auch das Verhältnis zueinander. Während Thomas Mann mit Agnes E. Mayer über eine einflußreiche Fördererin verfügt, die ihm über Schwierigkeiten hinweghilft und Türen öffnet, ist Heinrich Mann eher isoliert und erfährt keine öffentliche Resonanz. Dabei spielt sicher auch sein dezidiert linkes Profil eine Rolle, außerdem gehört er zu denjenigen europäischen Exilierten, denen Amerika ewig fremd bleibt. Das ist bei seinem jüngeren Bruder anders – ausführlich und lesenswert dazu Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann, der Amerikaner, 2011.

Beide schrieben während des Krieges in den USA, Thomas veröffentlichte vor allem die »Joseph-Trilogie« und begann den »Doktor Faustus«, Heinrichs Manuskripte – vor allem »Empfang bei der Welt« und »Der Atem« – fanden keinen Verlag. Eine Rückkehr nach Europa faßten beide erst spät ins Auge. Heinrich erwog, eine Einladung nach Ost-Berlin anzunehmen, starb aber, bevor er sich auf den Weg machen konnte. Thomas hatte zwar 1949 beide Teile Deutschlands aus Anlaß der Feiern zum 200. Geburtstag von Goethe besucht, siedelte aber nach wachsender Entfremdung von der Politik der USA 1952 in die Schweiz über.

Koopmann spürt auch im Alterswerk der beiden Bezugnahmen und Abrechnungen auf; vor allem habe dabei Thomas Mann die formale Weiterentwicklung seines Bruders ebensowenig gewürdigt wie die inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen eigenen Haltungen und schriftstellerischen Lösungsansätzen erkennbar zur Kenntnis genommen.

 

Mein Fazit:

Der interessante Gegenstand wird nicht umfassend genug, ja mitunter recht einseitig behandelt; eine breitere wissenschaftliche Absicherung wäre wünschenswert. Gleichwohl ist das Buch ein willkommener Anlaß, Texte beider Brüder neu oder erneut zu lesen.

Der Stil des Buches ist oft repetitiv, die mehrfache Verwendung derselben Brief- und Werkauszüge hätte vom Lektorat gemindert werden müssen.

 

tl;dr:

Lebenslange Rivalität zweier schreibender Brüder; seitens Thomas Manns Selbstvergewisserung durch Abgrenzung vom Werk Heinrichs und von ihm als Typus. Wechselseitiges Antworten in Briefen, aber vor allem Romanen und Novellen. Mehr oder weniger ausgeprägtes Verwerten fremder Gedanken und Formulierungen bei beiden. Vereint in der Ablehnung des Nationalsozialismus bei sehr unterschiedlicher Stellung im amerikanischen Exil. Gelegentlich handwerkliche Schwächen bei Koopmann. Insgesamt aber ein lesenswertes Buch.

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