Victor Klemperer, Revolutionstagebuch 1919

Victor Klemperer, Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919, Aufbau-Verlag (Lizenzausgabe Büchergilde Gutenberg) 2015, 263 Seiten (einschließlich Vor- und Nachwort sowie Apparat).

Erfolgreiche Revolutionen sind keine deutsche Spezialität. Auch die Räteexperimente, die Gegenstand der Klempererschen Aufzeichnungen sind, blieben Episode.

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Foto: nw2016

Klemperer – Kriegsheimkehrer, habilitierter Romanist, konvertierter Jude – hofft in München auf Entlassung aus der Armee, eine Anstellung als Privatdozent an der Universität, eine Wohnung und einen Studienplatz für seine Frau als Organistin. Eher zufällig wird er zusätzlich Korrespondent für die Leipziger Neuesten Nachrichten und schickt Berichte über die Geschehnisse in München nach Leipzig, wo aufgrund der Wirren der Revolutionszeit aber nur ein Teil der Artikel ankommt und gedruckt wird.

Die im Nachlaß entdeckten Texte werden hier mit späteren Aufzeichnungen (1942) über Klemperers frühe Münchener Zeit konfrontiert: Eine interessante Kombination der zeitgenössischen mit der zurückschauenden, sich aber erkennbar auf die seinerzeitigen Notizen stützenden Perspektive. Dabei kommt es allerdings zu einigen Wiederholungen beschreibender Passagen, denen in der späteren Fassung nicht zwingend eine Analyse beigegeben wird. In der Regel erkennt man aber eine Straffung und Ergänzung, wodurch sich ein umfassenderes Bild ergibt.

Die Lebendigkeit und Farbigkeit der Schilderungen, der leicht amüsierte Blick auf eine für Klemperer in mehrfacher Hinsicht fremde Welt und eine Vielzahl authentischer Eindrücke (etwa S. 79ff.) machen das Buch zu einer sehr lohnenden Lektüre. Ein Beispiel:

Erich Mühsam, der Edelanarchist, dessen Stern im Berliner Café des Westens aufging und der in München lange sanften literarischen Glanz ausstrahlte (trotz aller edelanarchistischen Lichter), ehe er sich mit wirklicher blutiger politischer Röte erfüllte, Mühsam, der von Natur immer ein liebevolles, hilfreiches, unkriegerisches Geschöpf war und über dessen revolutionäres Heldentum man auch heute gern lächeln würde, wenn es nicht doch auch verwirrend und gefährdend wirkte, ist ja als Berliner W-Pflanze bekannt geworden. D.h., er ist erst dorthin verpflanzt worden. Aufgewachsen ist er als Sohn eines Lübecker Apothekers in der damals noch so stillen Hansestadt. (S. 11f.)

Der Umbruch erhält auf diese Weise die Unschuld des Neuen, bekommt aus der hinzugefügten Perspektive der NS-Zeit aber auch die Tiefendimension seiner langfristigen Wirkungen. Romain Rolland schreibt vergleichsweise erschöpfter, ausgelaugter – etwa über den Mord an Luxemburg und Liebknecht und über ihre Beisetzung. Klemperer schaut aus der Nähe auf die Ereignisse, auch wenn das Tempo der Revolution münchnerisch mäßig erscheint, sind die Veränderungen gleichwohl kolossal.

Über die Wahl liberaler Parteien schreibt Klemperer:

Nein! es war keine Stimmvergeudung, mochte auch der eine oder andere Einwand zutreffen. Die eigentlich menschliche Welt ist mir die europäische, und Europa ist durch den Liberalismus geworden und lebt durch den Liberalismus. Er ist die reine, die allein europäisierende Lehre. Man muß sich zu ihr bekennen, auch da und gerade da, wo sie im Augenblick machtlos und mißachtet ist. (S. 62)

 

Mein Fazit:

Kluge und lesenswerte Beobachtungen in turbulenter Zeit. Der Umbruch 1918/1919 erschien den Zeitgenossen gewaltig, doch angesichts dessen, was noch vor dieser Generation liegen sollte, wirkt er letztendlich vergleichsweise harmlos. Klemperer schaut eher belustigt auf die revolutionären Umtriebe und registriert gleichzeitig sorgenvoll sich mehrende Anzeichen von Antisemitismus, der in der verhängnisvollen Figur des „jüdischen Bolschewisten“ seinen Ausdruck findet.

 

Das sagen andere:

Treffender Reklameartikel von Marc Reichwein in der Welt, überzeugende Einordnung von Jörg Magenau auf Deutschlandradio Kultur.

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