
Amazone zu Pferde (August Kiß) | Foto: nw2018
Mit diesem Leseprojekt werfe ich einen Blick auf das erste Drittel des 20. Jahrhunderts: die Geschichte, politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Entwicklungen, Kunst und Literatur. Das ist natürlich ein weites Feld, auf dem man sich als lesender Laie bewegt. Während ich zunächst überwiegend aus einer Metaperspektive auf die Zeit geschaut hatte (Lesebilanz), geht es mir derzeit verstärkt um individuelle Stimmen und Schicksale.
Erinnerungen
Hermann Kesten, Dichter im Café
Sándor Márai, Bekenntnisse eines Bürgers
Beide Männer sind im Jahr 1900 in der Habsburger Doppelmonarchie geboren. Kesten wuchs in Deutschland auf, erlebte den Ersten Weltkrieg als Jugendlicher und verließ das Land unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Márai kam 1919 als junger Student nach Leipzig, blieb ein gutes Jahr in Deutschland und zog dann nach Paris weiter, bevor er Mitte der 1920er Jahre nach Ungarn zurückkehrte, das er 1946 verließ. Sie sind ausdauernde Beobachter, die in Kaffeehäusern sitzen und schreiben. Beide starben im Exil.
Zeitlich fokussierter sind die »Revolutionstagebücher« von Victor Klemperer, in denen er die Ereignisse in München 1919 festhält, und das fotohistorische Panorama, das Anton Holzer unter dem Titel »Krieg nach dem Krieg. Revolution und Umbruch 1918/19« zusammengetragen hat.
Nachkriegseuropa: Kein Ende der Gewalt
Das Stichwort „Krieg nach dem Krieg“ ist der Ausgangspunkt für die interessante Studie von Robert Gerwarth: »Die Besiegten« In diesem Buch wird die Perspektive geweitet und so deutlich gemacht, daß man das Wort „Nachkriegszeit“ ganz unterschiedlich verstehen kann.
Der Abschluß der Pariser Vorortverträge bedeutete nicht das Ende der Gewalt, denn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa gingen Bürgerkriege, Aufstände und Waffenanwendung noch jahrelang weiter. Die Besiegten hatten, so Gerwarths These, keinen Frieden gefunden.
Gewaltmuster und Konfliktlinien, die während dieser Zeit geprägt wurden, sollten sich später im Zweiten Weltkrieg furchtbar auswirken.
Kunst und Veränderungen
Tiefenströmungen um die Jahrhundertwende kündigen den Wandel an, Avantgarden in der Kunst kehren sich vom traditionellen Stil der Akademien ab und gründen quer durch Europa Sezessionsbewegungen.
Fin-de-siècle-Stimmung trifft auf Fortschrittsgläubigkeit, Röntgen und Freud öffnen Leib und Seele.
So schrieb ich in dem Beitrag über die Berliner Secession und die Stimmung der Zeit. Die Modernisierungstendenzen werden ebenso begierig aufgegriffen wie begierig bekämpft. Die aus Allerhöchstem Munde so bezeichnete „Rinnsteinkunst“ gedeiht in der widersprüchlichen Atmosphäre der anderthalb Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. Während sich das literarische München auf den Weg in die Moderne machte, bereitete das konservativ-nationale Establishment nur wenige Jahre später den Gegenschlag vor: Der Protest der Richard-Wagner-Stadt München gegen den Vernunftrepublikaner Thomas Mann trieb den Schriftsteller und seine gesamte Familie im Jahr 1933 ins Exil. Die jüdische Auswanderung aus dem Deutschen Reich hatte bereits früher begonnen, lange bevor sie zur Flucht wurde. Der Weg nach Palästina und an andere Orte wurde im Lauf der Zeit immer beschwerlicher und schließlich unmöglich.
Mein Fazit lautet bislang, daß es sich um gut investierte Lesezeit gehandelt hat.
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