Umbruchszeit: die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts

Das 19. Jahrhundert wird oft als lang bezeichnet, es habe mit der Französischen Revolution begonnen und sei im Trommelfeuer des Ersten Weltkriegs untergegangen. Die „gute alte Zeit“ sah sich freilich bereits vor der Jahrhundertwende, auf alle Fälle aber seither einem Veränderungsdruck und einer von den Zeitgenossen tiefempfundenen Beschleunigung ausgesetzt. Philipp Blom hat dies in seinem Buch »Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914« auf eine sehr interessante Weise deutlich gemacht.

Als der Krieg die ungewohnt lange Friedensphase in Europa auf unerwartete Art und Weise völlig unheroisch beendete, brach nicht nur die alte, morsch gewordene Welt zusammen, sondern auch die neue Zeit erhielt gehörige Kratzer im glänzenden Lack der Moderne. Musik, bildende Künste, Literatur spiegeln diese Umbruchphase und die daraus resultierenden Unsicherheiten. Aber auch die Politik reagiert mit einer verhängnisvollen Mischung aus traditioneller Machtstrategie, Demagogie und Irrationalität auf die Ungewißheiten und Widersprüchlichkeiten. Bolschewismus, Revisionismus, Faschismus fordern ihren Tribut.

Mit diesen zwei Absätzen habe ich im Herbst 2015 ein Lektüreprojekt knapp umrissen, das mich schon seit längerem beschäftigt und dem ich auch für mich gut erkennbar mehr Aufmerksamkeit widme, seit ich meinen Blog Notizhefte betreibe (Juli 2013).

Nun möchte ich ein paar erste, grundlegende Gedanken zum Thema des unruhigen 20. Jahrhunderts formulieren und Leseerkenntnisse aus einigen der hierher gehörenden Bücher einfließen lassen.

Historische Periodisierungen sind ein Kapitel für sich – Notwendigkeit, Möglichkeit, Richtigkeit von Einteilungen sind vieldiskutiert. Daß aber das 20. Jahrhundert sich kategorial von den Jahrhunderten zuvor unterscheidet, dürfte unbestritten sein. Holocaust, Völkermorde und Atombombe heben es heraus aus der Menschheitsgeschichte, ebenso wie Motorisierung, Luft- und Raumfahrt sowie der exponentiell angestiegene Verbrauch fossiler Brennstoffe, erkennbar beginnender Klimawandel, die Bevölkerungsexplosion auf der Erde, der Computer und das Internet.

An der Schwelle zum 20. Jahrhundert sind manche dieser Entwicklungen oder Geschehnisse bereits präsent, andere werden herbeigesehnt oder erwartet. Die Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 feiert die Elektrizität, aber Kunst und Teile der Gesellschaft pflegen die Erinnerung und erleben die Gegenwart als Niedergang. Thomas Manns Roman »Buddenbrooks« und Maxim Gorkis Stück »Die Kleinbürger« erschienen 1901, dem Todesjahr von Königin Viktoria, die auch Kaiserin von Indien gewesen war.

Erwachender Nationalismus machte der anachronistischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zu schaffen, Sigmund Freud und Kaiser Franz Joseph I., Franz Kafka, Robert Musil und Hugo von Hofmannsthal sind zumindest partiell Zeitgenossen in einer untergehenden Welt, der bewußt ist, daß sie sich überlebt hat – und überlebt, indem sie davon Zeugnis ablegt.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach einer langen Friedensperiode in Zentraleuropa wurde in allen Ländern und lagerübergreifend begrüßt, weil er als Chance zur „Reinigung“ verstanden, als Gegenmittel zu einer vielfach konstatierten „Erschlaffung“ begriffen wurde. Gesellschaften, die das Soldatische feierten, aber keine Gelegenheit zum Kampf boten, zweifelten an sich und ihren Männlichkeitsbildern. Außerdem saßen die meisten Eliten und die Öffentlichkeit der Fehleinschätzung auf, es werde ein kurzer Krieg werden.

Foto: nw2015

Foto: nw2015

Das Gegenteil war der Fall. Am Ende waren drei Kaiser, zahlreiche Könige und Fürsten gestürzt, Reiche zerbrochen und neue Staaten entstanden. Die europäische Landkarte war in ihrer östlichen Hälfte signifikant verändert. Viele Millionen von Soldaten waren tot oder Invaliden, oft durch Giftgas oder Bombensplitter schlimm entstellt, die meisten Europäer hatten Hunger gelitten, die Landstriche der Front waren verwüstet, Kulturgüter vor allem in Belgien und Ostfrankreich zerstört.

Die neue Friedensordnung (interessant dazu auch G.F. Ikenberry, After Victory, 2001) versuchte, die idealistischen Vorstellungen von US-Präsident Wilson mit den Rache- und Sicherheitsbedürfnissen Frankreichs zu verbinden und allen Völkern die Selbstregierung zu ermöglichen, abhängig von ihrem Entwicklungsstand und Zivilisationsgrad. Dies gelang bekanntlich nur in unzureichendem Maße, der Völkerbund entfaltete nicht die erhoffte integrative Kraft. Im Deutschen Reich, das gleichsam über Nacht zur Republik geworden war, wurde der Versailler Friedensvertrag als „Diktatfrieden“ verstanden und von der Bevölkerung überwiegend empört abgelehnt. Revision galt partei- und lagerübergreifend als selbstverständliches Ziel deutscher Außenpolitik.

Hier bin ich neugierig auf Erkenntnisse durch die Lektüre von Margarete MacMillan, Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte.

Die Zwischenkriegszeit läßt sich wohl nicht auf einzigen  Nenner bringen. Verschuldung der europäischen Staaten, volkswirtschaftliche Schwierigkeiten und Reparationszahlungen prägen das Klima. Im Deutschen Reich wird die Republik von wichtigen Teilen der Gesellschaft nicht unterstützt, Revisionismus und Wiederaufrüstung werden von einer Mehrheit akzeptiert. Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ werden von einer berauschenden Modernität durchpulst. Der Jazz erobert Europa.

Eliten, Außenseiter, Künstler – sie alle begegnen sich, tauschen sich aus, produzieren, spekulieren, fabulieren. Im »Salon Deutschland« – so der Titel eines hochinteressanten Buches von Wolfgang Martynkewicz (2009) – begegnen sich Geistesheroen und Spinner, Menschenfreunde und -verächter, Juden, Homosexuelle, Rassetheoretiker und Ästhetiker.

Verschwörungstheoretiker haben Hochkonjunktur. Kommunisten und Nationalsozialisten liefern sich Straßenschlachten, Gewalt gehört schließlich zum Alltag. Die ehemaligen Kriegsteilnehmer finden sich im Frieden nicht zurecht. In dieser Situation sorgt ein ehemaliger kaiserlicher Feldmarschall hochbetagt zunächst für eine sonderbare Form der Stabilität, organisiert aber am Ende die Machtübergabe an Adolf Hitler mit (ausführlich dazu Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler).

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