Magdalena M. Moeller/Jürgen Baumgarten, Zeitenende – Zeitenwende. Expressionistische Lyrik und die Künstler der Brücke, Heidelberg und Berlin: Kehrer, 2014, 201 Seiten plus 18 Seiten Apparat.
Expressionismus in Wort und Bild
Das hier vorzustellende Buch – erworben bei meinem kürzlichen Besuch im Brücke-Museum – geht in Texten und Abbildungen der Verbindung von expressionistischer Lyrik und bildender Kunst nach. In ihren einleitenden Kapiteln untersuchen Moeller und Baumgarten die wechselseitigen Beziehungen von Dichtung und Malerei in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und während des Krieges.

Foto: nw2017
Moeller geht unter dem Titel „Kunst der Großstadt – Brücke und expressionistische Dichtung“ der Frage nach, wie die Künstler der Brücke ihre Zeit der Umwälzung und als rasend empfundenen Modernisierung erlebt und künstlerisch verarbeitet haben. Dabei rückt sie die Bedeutung der Literatur in den Mittelpunkt, zunächst ist es Nietzsche, dann, nach 1911 sind es die zahlreichen aktuellen, jungen Autoren der Berliner Großstadtdichtung, die ihrerseits die Philosophie der Großstadt von Georg Simmel reflektieren. Dabei reagieren die verschiedenen Brücke-Künstler in ihren Werken sehr unterschiedlich auf diese Einflüsse. Interessant ist bei Moeller auch nachzulesen, wie der Begriff Expressionismus für die Malerei und später die Literatur verwendet wird (S. 27ff.).
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs brach die Entwicklung des neuen Stils radikal ab. Lebenswerke konnten nicht vollendet werden, da zahlreiche Dichter wie Ernst Wilhelm Lotz, Alfred Liechtenstein, Ernst Stadler, Georg Trakl oder August Stramm, aber auch Künstler wie August Macke und Franz Marc im Krieg fielen. (S. 31)
Georg Trakl – diesen Hinweis erhielt ich von @zenitramnitram –,
der als Apotheker im Lazarett arbeitete, starb nicht auf dem Schlachtfeld,
sondern von eigener Hand im Militärhospital Krakau.
Baumgarten erörtert unter der Überschrift „Dichter-Sezession — Expressionistische Lyrik in Berlin“ – gleichsam von der anderen Seite kommend – Entstehungsbedingungen, Form und Gehalt von expressionistischen Texten. Er führt aus, daß die zahlreichen Literatur- und Kunstzeitschriften, die wöchentlich erschienen, Texte und oft auch Graphiken enthielten und die Berliner Hervorbringungen in das gesamte Land trugen. Schnelligkeit und Wechsel werden als – auch von den Dichtern empfundenes – Kennzeichen dieser (Aufbruchs-)Zeit vorgestellt, das sich auch auf die bevorzugten literarischen Formen auswirkte: Gedichte, Einakter, Erzählungen. Die Generation der 1885 bis 1890 Geborenen wollte weltzugewandter, irdischer und alltäglicher schreiben als die Älteren wie die Lyriker Hofmannsthal, Rilke oder George, die Dramatiker Hauptmann und Sternheim oder die Romanautoren Heinrich und Thomas Mann, Wassermann, Döblin oder Hesse. Der Epochenbruch ist ihr Thema:
Dabei sind die Jungen genaue Beobachter der Erscheinungswelt der mit Macht einbrechenden Moderne. Ihr Sensorium für die Gegenwart macht sie zur neuen Generation. Sie spüren, dass die sie umgebende Epoche radikal anders ist, und sie wollen radikal in dieser Gegenwart leben. (S. 44)
Die Stadt Berlin als das Laboratorium dieser Moderne ist Lebensraum und Gegenstand ihrer Kunst. Hier haben sie Anschauungsmaterial und gedanklichen Austausch mit anderen Künstlern (S. 51), aber auch Gelegenheit zur sexuellen Befreiung (S. 53).
Das schön ausgestattete Buch führt dann auf weiteren, knapp 120 Seiten Bilder und Gedichte zusammen.
Viele Kohlezeichnungen und Holzschnitte, die Motive oft in alptraumhafter Verzerrung wiedergegeben. Farben häufig grell oder auch düster. Die Texte der Vorkriegszeit mitunter experimentierend, schwankend zwischen alten Formeln und neuen Wortkombinationen, auch voll jugendlichen Weltschmerzes oder Weltekel; ab 1914 ist das desillusionierte Entsetzen mit Händen zu greifen – in Wort und Bild.
Punkt
Die wüsten Straßen fließen lichterloh
Durch den erloschen Kopf. Und tun mir weh.
Ich fühle deutlich, daß ich bald vergeh –
Dornrosen meines Fleisches, stecht nicht so.
Die Nacht verschimmelt. Giftlaternenschein
Hat, kriechend, sie mit grünem Dreck beschmiert.
Das Herz ist wie ein Sack. Das Blut erfriert.
Die Welt fällt um. Die Augen stürzen ein.
Alfred Lichtenstein, veröffentlicht in: Die Aktion, 4. Jg., Nr. 1, 3. Januar 1914.
Über viele der in dem von Moeller und Baumgarten vorgelegten Buch erwähnten Dichter finden sich in dem schönen Band „Bühne auf!“ ergänzende Hinweise zu ihren Erstlingswerken.
Gegenstand des Buches ist ein spannender und pointiert dargestellter Ausschnitt aus einer längeren, kunst- und gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung, die nachstehend skizziert werden soll:
Berlin, Weimar und der Kampf um die Moderne
Dieser Abschnitt beruht vorwiegend auf:
Peter-Klaus Schuster, Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne, in: Manet bis van Gogh, Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne, hrsg. von Johann Georg Prinz von Hohenzollern und Peter-Klaus Schuster, 1996, S. 21-40.
sowie:
Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte1866-1918. Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, 1990, S. 705ff.
Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht 1871-1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, 1997, S. 357ff.
Thomas Föhl, Ein Museum der Moderne – Harry Graf Kessler und das Neue Weimar, in: Manet bis van Gogh, Hugo von Tschudi und der Kampf um die Moderne, hrsg. von Johann Georg Prinz von Hohenzollern und Peter-Klaus Schuster, 1996, S. 288-301.
Friedrich Rothe, Harry Graf Kessler. Biographie, 2008, S. 145ff, 191ff.
Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914, 2008, Tb. 2011.
Lars Koch, Der Erste Weltkrieg als kulturelle Katharsis und literarisches Ereignis, in: Niels Werber u.a. (Hrsg), Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, 2014, S. 97-141.
Das vorstehend vorgestellte Buch behandelt einen Aspekt einer größeren Entwicklung, die sich in Deutschland und in ganz Europa über mehrere Jahrzehnte hinzog – ein Wandel hin zur kulturellen und gesellschaftlichen Moderne. Der Erste Weltkrieg, an dessen Ende zahlreiche europäische Throne umgestürzt waren, markiert diesen Wandel sehr deutlich, stellt freilich nur einen Punkt in einer längeren „Sattelzeit“ dar. Der Kampf um die Moderne im Bereich der Kunst hatte da längst schon stattgefunden. Die schlagartige Beendigung der meisten europäischen Monarchien, die zum Teil viele Jahrhunderte geherrscht hatten, führte lediglich zu einer erhöhten Sichtbarkeit. Sie bedeutete aber auch, daß alte Ordnungsvorstellungen und Maßstäbe endgültig hinfällig geworden waren und neue Experimentierfelder eröffnet, aber auch existenzielle Unsicherheitserfahrungen gemacht wurden. Der „Umbruch“ war damit noch keineswegs abgeschlossen, aber „Die Welt von Gestern“ endgültig versunken und gleichzeitig zum verhängnisvoll verklärten Maßstab für die Gegenwart geworden.
Am 12. November 1892 hatte Anton von Werner, Maler der „Kaiserproklamation zu Versailles“ und vielfacher Kunstfunktionär des Kaiserreichs, eine Ausstellung von Werken Eduard Munchs mit der Begründung vorzeitig geschlossen, die Werke seien ein „Hohn für die Kunst, [eine] Schweinerei und Gemeinheit“. Zunächst in München, später in Berlin kam es zur Bildung moderner Künstlergruppen (Sezession – München/1892, Wien/1897, Berlin/1898 ; Neue Künstlervereinigung München/1908); die im Jahre 1898 eröffnete Galerie von Bruno und Paul Cassirer förderte junge Künstler. Das Bürgertum stellte sich so gegen den Hof und die Akademien; gleichzeitig eröffnete auch die föderale Konkurrenz der Höfe manchen Spielraum.
Seitdem 1896 Hugo von Tschudi zum Direktor der Nationalgalerie in Berlin berufen worden war, hatte er zeitgenössische, insbesondere französische Malerei angekauft. Dabei hatte er es mit Kaiser Wilhelm II. zu tun, der selbst pointierte – und zutiefst konventionelle – Ansichten über Kunst und ihre gesellschaftspolitische Bedeutung besaß. Der Kaiser fand in einer programmatischen Rede aus dem Jahr 1901, die Künste sollten tröstend und verklärend über die Nöte des Alltags ins Reich des Schönen und Idealen hinaufführen, um solchermaßen zu erfreuen, Soziales zu stabilisieren sowie den Ruhm des Herrscherhauses und der Nation zu mehren. Welche Kunst diesen Ansprüchen genüge, bestimme ausschließlich er selbst, alles andere sei „Rinnsteinkunst“.
Mit dieser Geschmacksäußerung stand der Kaiser keineswegs allein, sondern vertrat eine weit verbreitete Meinung auch in bürgerlichen Kreisen und unter Intellektuellen. So hatte etwa Hugo von Hofmannsthal, dem in Kunstdingen ein vorzüglicher Geschmack attestiert wurde, eine entschiedene Vorliebe für französische Malerei, lehnte aber die österreichische Avantgarde der Zeit ab. Über Klimt, Kokoschka, Schiele und Faistauer, deren Werke 1916 in Berlin gezeigt wurden, äußerte er sich nach dem Besuch dieser Ausstellung geradezu abfällig. (Ulrich Weinzierl, Hofmannsthal. Skizzen zu seinem Bild, 2005, Tb. 2007, S. 79)
Gleichwohl ist es Tschudi bis zu seiner Entlassung im Jahre 1909 gelungen, mit Wissen, teilweiser Billigung und Geld des Kaisers aus dem nationalen Ruhmestempel der deutschen Kunst ein internationales Kunstmuseum von Rang zu machen, das lange vor Pariser Museen französische zeitgenössische Maler kaufte. Diese Ambivalenz erfaßt etwa Volker Ullrich in seinem letztlich auch insoweit einseitigen Buch „Die nervöse Großmacht“ nur zum Teil. Wie anders, souverän-ausgewogen, umfassend informierend und stilistisch unangefochten bei aller Kürze auch in diesem Punkt Nipperdey (S. 710).
Nicht nur München bildete einen Gegenpol zu Berlin – und bot Tschudi nach seiner Entlassung im Jahre 1909 eine neue Betätigungsmöglichkeit – auch eine Stadt wie Weimar setzte sich mit der künstlerischen Moderne auseinander. Hier war es ein lange erwarteter Thronwechsel, der im Jahre 1901 den jungen Wilhelm Ernst als zugleich letzten Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach an die Regierung brachte. Als Nachfolger seines Großvaters Carl Alexander war er gleichsam ein natürlicher Modernisierer. Harry Graf Kessler sorgte im Verein mit Elisabeth Förster-Nietzsche für die Berufung des belgischen Künstlers Henry van de Velde zum Direktor der Kunstschule. 1902 geht Kessler selbst nach Weimar, um die Leitung der dortigen Museen zu übernehmen. Ankäufe und Ausstellungen folgen – bereits seit 1890 hatte man dort zeitgenössische Franzosen sowie u.a. Stuck, Leistikow oder Liebermann gezeigt. Kessler nahm die Umgestaltung der Präsentation in Angriff und zeigte bis zu seinem Rücktritt im Jahre 1906 über dreißig Ausstellungen, darunter Gauguin, Rodin, Nolde, Kandinsky, Corinth, Manet, Monet, Cézanne und Renoir. Auch wenn ihm das Weimarer Publikum dies kaum dankt und sein Abgang von höchster Unrühmlichkeit ist, bewirken Kesslers Aktivitäten viel für die moderne Kunst.
Die deutsche Avantgardeliteratur der Jahrhundertwende ist zumindest in einer Hinsicht aus dem Rückblick schwer verständlich: Die Radikalität des Aufbruchs- und Ausbruchswillens aus der wilhelminischen Enge und Dumpfheit schließt das Purgatorium des Krieges ausdrücklich ein. Nicht nur konservative Autoren wie Walter Flex tun sich hier hervor, sondern gerade auch die radikal antibürgerlichen Stimmen (die freilich selbst oft bürgerlichen Kreisen entstammen). Johannes R. Becher, Stefan George, Arnolt Bronnen, Ernst Stadler, Georg Heym, Georg Trakl, Alfred Lichtenstein – alle schreiben über Niedergang und Stillstand, fordern Erneuerung durch unmittelbares Erleben und sehen den Krieg als hierzu taugliches Mittel an. Lars Koch weist aber darauf hin, daß der Wirkungsgrad dieser avantgardistischen Literatur nicht überschätzt werden dürfe und weit hinter der Reichweite von Walter Flex zurückbleibe; „Nichtsdestotrotz liefert die frühexpressionistische Lyrik als Dokument der Stimmungslage der bürgerlichen Jugend am Vorabend des Ersten Weltkriegs wichtige Einsichten.“ (S. 103)
Die Nationalsozialisten vertraten das Ideal der sogenannten Deutschen Kunst, lehnten den Expressionismus und nachfolgende Stilrichtungen ab und forderten außerdem, Werke jüdischer Künstler zu beseitigen. In Weimar, München, Hamburg, Berlin und anderenorts wurden die Museen entsprechend gesäubert und als unzuverlässig geltendes Personal ersetzt. Ein Erlaß vom 30. Juni 1937 ermächtigte den Präsidenten der Reichskunstkammer dazu, „die im deutschen Reichs-, Länder- und Kommunalbesitz befindlichen Werke deutscher Verfallskunst seit 1910 auf dem Gebiete der Malerei und der Bildhauerei zum Zwecke einer Ausstellung auszuwählen und sicherzustellen“. Auf der Münchener Ausstellung »Entartete Kunst« wenige Wochen später wurden 650 konfiszierte Kunstwerke aus 32 deutschen Museen gezeigt. Eine neue Zeitenwende hatte stattgefunden.
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