Olivier Rolin, Meroe, 1998, dt. 2017 (aus dem Französischen von Jürgen Ritte), 302 Seiten. Ein Roman aus dem Sudan, in dem sich Archäologie, Kolonial- und Zeitgeschichte vermischen.
Der Autor Olivier Rolin (geboren 1947) legte ab Mitte der 1980er Jahre eine Reihe von Romanen vor, davon einige mit geographischem Bezug und eigene Reiseerfahrungen verarbeitend. »Meroe« wurde bereits 2002 von Jürgen Ritte ins Deutsche übertragen und erschien zur Frankfurter Buchmesse 2017, bei der Frankreich das Gastland war, erneut – mit Bearbeitungen, die die zwischenzeitliche Teilung des riesigen Landes nachvollzogen.

Foto: nw2017
Inhalt und erster Eindruck
Der Text atmet noch in der Übersetzung die Eleganz des französischen Originals, verströmt die maskuline Herbheit von älteren Abenteuer- und Expeditionsgeschichten, streift gelegentlich den Kitsch und läßt mich auch immer wieder an Peter Scholl-Latours Bücher denken.
[…] Pythonschlangen, fest und schillernd wie schöne, in Seide gehüllte Beine […] (S. 21)
Es gab keine Quelle, nur den diffusen Schoß der Finsternis. (S. 194)
Die Sonne senkt sich rot auf den großen, bebenden Leib Afrikas. (S. 280)
Ein Mann denkt über eine verlorene Liebe nach, deren Ende ihn beschädigt zurückgelassen hat. Eigentlich hatte er sich zum Vergessen an einen Nicht-Ort zurückgezogen, aber dort gibt es Raum und Zeit zum Nachdenken. Die zur Obsession neigende Hauptfigur kämpft heroisch darum, im Strudel der Erinnerungen und Gedanken nicht unterzugehen. Das demonstriert der Text mit Geschick und Sprachmächtigkeit, sorgt aber auch für Ermüdung:
Das Nichtstun des Erzählers führt zu nicht endenwollenden, mäandernden Gedankenströmen, die mir wenig Halt und Struktur bieten. Ein Neuanfang nach dreißig Seiten ändert an diesem Eindruck nichts, also schwimme ich immer ein paar Seiten mit, werde nie richtig gefesselt und steige kurz danach wieder aus, bis es wieder von vorne losgeht.
Stil
Skrupulös-naturalistische Beschreibungen blähen kürzeste Sachverhalte auf: Dr. Vollender beendet die Arbeit und verläßt das Museum, um zu einem Hotel zu gehen – über drei Druckseiten. Der Erzähler steht an einer Straßenkreuzung und denkt abschweifend über die Frau nach, die er liebte – fünfeinhalb Druckseiten. So geht das in einem fort. Dabei liest man den einen oder anderen guten Satz, freut sich über ein starkes Sprachbild und ist gleichzeitig erschöpft von der vermuteten Fülle unerkannter Anspielungen und Bezüge. Rückblenden in die Zeit der Kämpfe zwischen der britischen Kolonialmacht und den Truppen des Mahdi, durchwirkt mit Tagebuchauszügen sowie Vermutungen zu Ideen und Ängsten des britischen Kommandeurs grundieren den Text, der vielfältig die Vergeblichkeit und Vergänglichkeit europäischen Wirkens angesichts der tropischen Vegetation und unerschütterlich scheinender Traditionen anklingen läßt. Während hierbei kein expliziter, irgendwie didaktisch orientierter Gegenwartsbezug hergestellt wird, verläßt der Autor zwischendurch und überraschend dann doch die Kunstwelt des Romans:
Viele meiner ehemaligen Freunde wollten nie zugeben, dass einige der Ideen, denen wir in den Sechzigerjahren und später anhingen, nichts als überholter blutiger Kram waren: andernfalls hätten sie sich wohl um ihre Jugend betrogen gefühlt. (S. 57)
Auch wendet sich der Autor später dann gleichsam während des Schreibens an seine Leser und läßt sie einen Blick in seine Werkstatt werfen (S. 86f.). Das steht aber jeweils unverbunden zum sonstigen Text und läßt mich etwas ratlos zurück.
Ein heruntergekommener Schreckensmann, der wohl als der Terrorist „Carlos“ zu identifizieren ist, hat einen kurzen Auftritt. Warum? Gut, 1998 erinnerte man sich noch stärker an ihn. Und er symbolisiert letztlich auch die Endstationshaftigkeit Khartums.
Die Hauptperson muß ein beeindruckendes Haarwachstum haben: zweimal monatlich werden vom Friseur die Ohren freigelegt und es kommt ein „altes Kindergesicht“ zum Vorschein (S. 94).
Rückblende, Ortswechsel: Europa, an einem Sterbebett in England, dann in Paris. Dort Gespräche mit dem Sterbenden – in die natürlich auch wieder Bemerkungen zu Charles Gordon eingeflochten werden –, hier durch hundert Einschübe unterbrochene Erinnerungen an die Frau, die ihn verlassen hat.
In gewisser Weise bildet die klischeehaft-abgeschmackte Beschreibung der exotischen Frau einen Tiefpunkt der Lektüre:
… dieses bedrohliche Wunder aus Augen Mund dunklem Haar mit Kupferglanz, exzessiv vorspringenden Brüsten unter einem gelb-schwarz gestreiften Body … (S. 132f.)
Deshalb nicke ich beim Lesen der nachfolgenden Stelle heftig:
Ich weiß, ich könnte all dies mit der Nüchternheit einer Madame de Lafayette beschreiben: »Es reichte, sie zu sehen, um sie niemals zu vergessen«, oder irgendetwas in dieser Richtung. (S. 133)
Während ich noch zustimmend denke, daß mir das eindeutig besser gefiele, gleite ich durch die nächsten Zeilen in ein sturzbachartig formuliertes, flammendes Manifest einer biographisch fundierten Lebenseinstellung des Ich-Erzählers (S. 134f.). Ganz starkes Stück Literatur, zwingend formuliert und schlüssig aus dem Vorherigen entwickelt.
Khartum – Paris – Meroe – Khartum: so schreitet das Buch Orte ab und gleitet durch die Jahrhunderte, kreist in einer gleichsam erratischen Beharrlichkeit um das Scheitern, besser um die Vergeblichkeit des Sich-Mühens. Die Flammen der Lust werden für den Ich-Erzähler hell überstrahlt vom berauschenden Glanz einer endlosen Kette von Worten. Leider teilt sich mir dieser Rausch nicht mit, und ich betrachte ihn wie den Berauschten auch nicht mit großer Sympathie.
Tatsächlich gut gefiel mir der Erzählstrang um die untergegangene christliche Kultur im Sudan, diese ehemals ägyptischen Reste, die später zu ehemals byzantinischen Resten wurden, und die Gegenstand der Ausgrabungen von Dr. Vollender sind. Hier fügen sich Leidenschaft und Dynamik zu einem dem Gegenstand angemessenen Al-fresco-Stil.
Fazit
Die sich hinziehende Nabelschau, das detailreiche Erinnern, das aus dem Vergessenwollen folgt, die Vanitasmotive, Tardierungen und Wiederholungen – all das nimmt viel Raum ein, ohne für mich dadurch mehr Gewicht zu erlangen. So bleibt ein ambivalenter Eindruck: Ich sehe, daß der Autor pfauengleich ein prächtiges Rad schlägt, doch ich weiß nicht, wozu.
Manchmal sind Bücher untergründig miteinander verbunden. Zuletzt las ich Hans Rudolf Vagets Buch über Wagners wehvolles Erbe bei Hitler, Knappertsbusch und Mann, worin natürlich Erdas Prophezeiung zu finden ist: „Alles was ist – endet!“ Bei Rolin heißt es knapp:
Das einzig Sichere ist das Ende. (S. 80)
Mit den Worten „Strike hard!“ stirbt Gordon unter den Schüssen der Truppen des Mahdi. Else stirbt unter den einstürzenden Sandmassen der Ausgrabung. War es Mord? Gibt es Gewißheit, einen Schlußpunkt?
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