Armin Thurnher, Ach, Österreich! Europäische Lektionen aus der Alpenrepublik, Paul Zsolnay Verlag, 2016, 171 Seiten.
Als Deutscher habe ich ein facettenreiches, gleichwohl diffuses Österreichbild. Es ist von einer reichen Vergangenheit bestimmt, in der von mir jeweils erlebten Gegenwart sind es medial vermittelte Skandale, ein paar Urlaubsaufenthalte und -durchfahrten, gelegentliche Gespräche mit Kollegen und Opernübertragungen im Fernsehen: Hans Moser, Marcel Prawy, Georg Kreisler.
Auf den Gebieten von Musik, Literatur, Kunst und Küche haben Österreicher/innen die europäische Kultur entscheidend mitgeformt. Kaiser, Erzherzöge und Bischöfe haben als Mäzene gewirkt. Politisch haben die Habsburger auf dem Kontinent lange Zeit eine dominierende Stellung innegehabt; Bourbonen, Wittelsbacher und Hohenzollern waren oft nur epochenweise Rivalen.
Die borussisch geprägte Sichtweise auf ein Österreich nach 1866, ein irgendwie-seliges Kakanien, vielfach besungen, beschrieben, demaskiert und analysiert in der Kunst Galiziens, Prags, Wiens und – notabene! – im Exil. Von jenem Österreich zwischen Radetzkymarsch und Fledermaus hier sowie Egon Schiele und Sigmund Freud dort soll nachfolgend aber nicht die Rede sein. Es ist zwar in dem vorzustellenden Buch präsent – freilich ist des Autors Perspektive eine österreichische, aber wer käme ohne diese Folie aus? – doch der Text handelt von der Republik Österreich, blendet zu ihren Geburtsfehlern und Adoleszenzuntaten, um ihre spätere Midlife-Crisis und das gegenwärtige Geschehen um die Präsidentschaftswahlen des Jahres 2016 zu erörtern.
Es ist also ein politisches Buch, und sein Autor bezieht dezidiert Position. Von Hans Dichand, weiland Herausgeber der berüchtigten Kronen Zeitung, wurde er als einer der besten Journalisten Österreichs bezeichnet, nicht ohne den denunzierend gemeinten und wirkenden Zusatz: „Leider Kommunist.“ (S. 23) Der so Gescholtene ist auch dezidiert links, aber nicht doktrinär und manchmal sogar liberal.
Sein in diesem Jahr erschienener längerer Essay ist Bestandsaufnahme und Abrechnung zugleich. Der sprechende Titel gibt die Richtung vor, die der gleichermaßen informative – vor allem für Ausländer – wie meinungsstarke Text einschlägt.
Das erste Kapitel bietet einen Längsschnitt durch die österreichische Nachkriegsgeschichte mit den markanten Fixpunkten Kreisky, Waldheim und Haider, deren amalgamische Anziehung und Abstoßung in die Untiefen der Jetztzeit mündet. Geschickt kombiniert Thurnher dabei Innen- und Außensichten.
Der Niedergang der Politik ist immer auch einer der Öffentlichkeit. (S. 55)
Die Analyse der Bundespräsidentenwahl beginnt mit einer unglücklich verlaufenen Auswahl der Kandidaten, ihrer Präsentation im Fernsehen, behandelt die rechtlichen Kompetenzen und die politische Bedeutung des Amtes und mündet dann in einen eindringlichen Appell für die Rückkehr zu politischen Inhalten, Ehrlichkeit und die Formulierung konkreter Ziele.
Im Anschluß daran betrachtet Thurnher aber nicht nur die FPÖ, sondern auch ÖVP, SPÖ, Grüne, Neos und Zivilgesellschaft. Er kreist um die Frage, wie es soweit kommen konnte. Welche Rolle spielen die Medien, wie stark ist die Verflechtung von Politik und Wirtschaft, warum schweigen die Intellektuellen?
Neben Kapitalismus und Staat ist das dritte Problem der Linken die Freiheit. (S. 129)
Ein starker Satz, auf den aber zu wenig folgt. Die Linke kann sich nicht erklären, denn:
Die kulturelle Hegemonie ist anderswo. (S. 130)
Diese Klage eint Linke und Rechte – Thurnher schreibt den Satz so flüssig, wie Norbert Hofer ihn sprechen würde: bar jeder Selbstreflexion. Für deutsche Medien ist er, wie Umfragen mindestens seit dem Jahr 2005 zeigen, dezidiert falsch: über ein Drittel der politischen Journalisten wählt grün, ein Fünftel SPD, CDU und FDP sind jeweils klar im einstelligen Prozentbereich.
Die anschließenden Ausführungen über Grüne, Neos und Zivilgesellschaft zeigen aber deutlich, daß es ein signifikantes liberales Potential in der österreichischen Gesellschaft gibt, das in beide Richtungen des politischen Spektrums reicht und – wenn auch nicht hegemonial – so doch prägend (S. 139) wirkt. Aus einer liberalen Perspektive ist Hegemonie ohnehin abzulehnen, doch wer wie Thurnher verbissen gegen einen als übermächtig begriffenen Neoliberalismus anschreibt, muß wohl um jeden Fußbreit Boden kämpfen.
Der Autor arbeitet sich an Österreich ab, dem er gleichzeitig in ewiger Haßliebe verbunden ist. Das Kapitel „Austriaca“ zeigt dies überdeutlich.
Der Ausblick zur weiteren Entwicklung folgt zwar bekannten linken Argumentationslinien, reflektiert aber dabei auftretende Dilemmata und plädiert unausgesprochen für eine liberale und damit gemäßigte Lösung.
Der Neoliberalismus habe davon profitiert, daß die emanzipatorischen linken Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre sich auch gegen staatliche Bevormundung gewandt und dabei eine Mißdeutung des Freiheitsbegriffs hingenommen hätten. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten müßten aber durch soziale Impulse aufgefrischt werden, Freiheit und Gerechtigkeit müßten sich wechselseitig ergänzen.
Was braucht es zur Weltrettung? Ach, nicht viel. Die Entmachtung des neoliberalen Denkkollektivs, eine Wiedereinführung der Humboldtschen Universität, die Neuerfindung von Sozialismus und Kapitalismus, eine Neugestaltung der Sozialpartnerschaft. Ein öffentlich-rechtliches Internet, eine gerechte Besteuerung der US-Medienkonzerne, die Rekonstruktion der Öffentlichkeit und ganz andere Schulen. (S. 170)
Rhetorisch entschlackt, kann das auch ein Liberaler unterschreiben. Aber offenbar kommen Linke wie Rechte nicht davon los, ihre jeweilige Position absolut zu stellen. Doch mit den hegemonialen Diskursen kommen Tugendwächter und Blockwarte.
Das Buch bietet eine anregende Lektüre, auf die ich mit Widerspruch und mit Zustimmung reagiert habe. Als Kaffeehauslektüre in Linz erschien es mir jedenfalls durchaus passend.

Ach, Österreich! Mélange, Himbeerkardinal, Essay Foto: nw2016
Danke für den interessanten Tipp, ich befasse mich viel zu selten mit dem politischen Denken in unserem Nachbarland Österreich.
Für eine seit kurzem zu 100%-Laktose-Intolerante ist das allerdings ein unerträgliches leckeres Foto.
Ich war gerade dort zu Besuch und habe das Buch in einer Buchhandlung entdeckt. Dachte, das paßt gut – und es hat sich ja auch gelohnt. Und das Foto kann ja auch rein symbolisch verstanden werden 🙂
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