Drei Männer – ein Haus: Die Villa vor Venedig

Felix Kucher, Malcontenta, Picus Verlag Wien, 2016, 316 Seiten.

Der 1965 geborene Autor ist ausweislich des Klappentextes Qualitätsmanager, Lehrer und Weinbauer. Er stammt aus und lebt in Klagenfurt, wo er auch, neben Graz und Bologna, studierte; »Malcontenta« ist, so erfahren wir, sein erster Roman.

Malcontenta ist der Name einer Villa vor Venedig, in der sich die Geschichten dreier Männer kreuzen, die in drei verschiedenen Jahrhunderten mit dem Ort in Verbindung treten.

Wir erleben, wie Said aus Libyen sich im Jahr 2012 zur Flucht nach Europa entschließt. Wir lernen Bertie kennen, der im Jahr 1913 im Bois de Boulogne vom Pferd geschossen wird. Beide jungen Männer werden ihr Leben ändern.

Damals: Dekadenz und Umbruch – heute: Flucht als einzige Perspektive

Bertie, der jüdische Bankierssohn, dessen Vater aus Deutschland nach Brasilien ausgewandert war und der nun eine Bank in London und Paris leitet, wird mit einer Vergangenheit ausgestattet und in kulturelle Zusammenhänge eingeordnet. Saids Geschichte spielt immer in der Gegenwart, es geht darum, die nächste Etappe zu schaffen. Saids Reise mit den Schleppern an die Küste, die Überfahrt in dem übervollen Boot, diese Passagen sind in einem rauhen Ton geschrieben, reportagenhaft. Die Gespräche Berties mit dem Mann, der ihn nach dem Schuß mit sich nach Hause genommen und – nicht ohne unschickliche Hintergedanken – gepflegt hat,  sind in einem literarischen Plauderton verfaßt und atmen Geist und Kultur der gehobenen Stände in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Sie besuchen die Uraufführung von Strawinskis »Frühlingsopfer« durch die Balletts Russes, treffen Djagilew und Nijinskij. Said gelingt die Überfahrt, er kommt nach Lampedusa. Dort begegnet er Lala, einer jungen Frau aus seinem Volk. In der Zwischenwelt des Flüchtlingslagers sind ihre sozialen Rollen atypisch, die Sexualität muß sich ihren Weg erst bahnen. Die erotisch aufgeladene Atmosphäre der Pariser Zerstreuungen ruft in einer an die »Kameliendame« gemahnenden Szene Berties Vater auf den Plan.

1914, der Krieg tritt in Berties Leben. Die Erzählung wird Anfang 1919 wieder aufgenommen, dürre Sätze überbrücken die nicht uninteressante Lücke. Europa lockt. Erneut hält ihm der von seinem Lebenswandel enttäuschte Vater eine Standpauke und schickt ihn fort. Said und Lala haben sich mittlerweile in Richtung Festland aufgemacht. Während Bertie mit seiner Entourage 1924 aus Anlaß von Lord Byrons hundertstem Todestag über Rom nach Venedig reist, erreichen Said und Lala die Stadt mühsamer.

Miteinander verwobene Zeitebenen

Auf Seite 123 fällt der Name Battista Francos das erste Mal, ein im Jahre 1510 geborener Maler, der die Decke einer Seitenkapelle ausgemalt hat, die Bertie besichtigt.

Der zweite Teil des Romans, der kurz darauf beginnt, handelt von Bertie und jenem Battista, wobei Kucher aus dessen Erinnerungen zitiert. Im dritten Teil  sind Said und Lala immer noch in Kalabrien, aber nun werden ihre Erlebnisse mit den Erinnerungen Battistas verschränkt. Der vierte Teil schneidet Berties Leben in den 1930er Jahren gegen die Ankunft von Said und Lala zunächst in Mestre und dann der Villa vor Venedig.

Es geht um die Wiederentdeckung eines Malers, des „größten Maler[s] nach Michelangelo“ (S. 310) und seiner spannenden Memoiren, um einen Juden, der 1939 zum zweiten Mal vor dem Krieg und erstmals vor dem Antisemitismus aus Europa nach Brasilien flieht, und um zwei junge Afrikaner, die es an den Ort verschlägt, an dem sich diese Vergangenheiten abgespielt haben. Geschickt verknüpft Kucher die Fäden der Erzählungen zu einer spannenden, lehrreichen und stellenweise auch berührenden Geschichte. Dabei gelingen ihm drei unterschiedliche stilistische Textteile, die durch Kontrast und Verknüpfung den besonderen Charakter des Buches ausmachen.

Die Einbindung der aktuellen Fluchtgeschichte wirkt nicht aufgesetzt, da war ich zunächst skeptisch. Die Geschichte Berties ist diejenige, die mich sprachlich und inhaltlich am meisten angesprochen hat – Literatur aus der und über die Epoche fasziniert mich eigentlich immer. Der Handlungsstrang über den Renaissancemaler ist ebenfalls sehr reizvoll und greift unerwartet biblische, gleichzeitig allzumenschliche Motive auf.

Eines aber sei euch unverhalten, ihr Lieben, daß ein Tag vor dem Herrn ist wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag. (2 Petrus 3.8)

Was dauert, was vergeht? Welche Kunst bleibt, welche Spektakel vergehen? (S. 144) Zwar will – mit Nietzsche – alle Lust Ewigkeit, doch den aufführenden Künsten – Tanz, Theater, Oper, Musik – blieb der Dialog mit der Ewigkeit vor der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks (Walter Benjamin, zuerst 1936) versagt. Bertie sucht nach den Fresken Battistas, um das Dauerhafte hervorzuholen – und es der Welt wiederzugeben. Said, der Sprayer, wird zur Vollendung dieser Mission beitragen. Doch was ist bewahrenswert? Nur das Kanonisch-akademische? Das Singuläre? Das Mißratene? Oder trägt gar am Ende das mehr oder weniger zufällig Bewahrte ohnehin den Sieg davon?

Neben den zahllosen Namen von Künstlers aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts fallen in Bertie Geschichte schließlich die Namen Hitler und Mussolini häufiger und leiten eine erneute Veränderung ein. Erst spät, kurz nach dem Ausbruch des Krieges schifft sich Bertie nach Brasilien ein, seine Villa, mit deren Kunstkonzept er gescheitert ist, ebenso zurücklassend wie die unlängst entdeckte Schrift Battistas. Dessen Leben war in der Villa an einen End- und Höhepunkt gelangt. Für Said und Lala ist sie eine Etappe; ihre Geschichte bleibt offen.

Amüsant ist, um das am Rande festzuhalten, wenn der österreichische Autor den russischen Ballettimpressario Sergej Djagilew ebenso „heuer“ sagen läßt (S. 149) wie einen russischen Balletttänzer (S. 213).

Am Ende steht eine Leseempfehlung für »Malcontenta«, diese ungewöhnliche Mischung aus Kunstgeschichte und Zeitgeschehen. Sicher keine große Literatur, manchmal erkennbar durchkonstruiert, aber eben auch keine verschwendete Lese- und Lebenszeit.

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