
Astrolabium des Tobias Volkmer, um 1591 Foto: nw2016
Eleanor Catton, Die Gestirne, btb-verlag 2015 (The Luminaries, 2013), 1036 Seiten, und Péter Esterházy, Die Mantel-und-Degen-Version, Einfache Geschichte Komma hundert Seiten, Roman, Hanser Berlin 2015, übersetzt von Heike Flemming (original 2013), 238 Seiten.
Ort, Zeit, Herangehensweise, Umfang und Stil – unterschiedlicher in jeder Hinsicht können zwei Bücher kaum sein. Oder? Zwar trifft all das zu, aber die beiden Romane eint, daß sie in der Manier vergangene Zeiten geschrieben sind. Dieses Als-ob führt uns bei Catton in die Zeit des viktorianischen Fortsetzungsromans à la Dickens. Esterházy simuliert ein spätbarockes Epos, doch er decouvriert die Simulation beständig.
Der Verlag hat im Falle Esterházys die kleinformatigen Seiten eher locker bedruckt – was damit zu tun hat, daß die „Seiten“ des Konvoluts zwischen einer halben und mehreren Druckseiten umfassen –, sodaß das Buch eigentlich schnell durchgelesen sein könnte. Doch der Text gewährt und fordert Pausen, schickt seine Leser in Schleifen, lädt zum Nachdenken, ja Nachsinnen ein, zumal die Handlung nicht besonders stringent nach vorne drängt.
Eine Frau, die viel erlebt hat. Solche warteten auf Balzac, damit sie endlich ordentlich – beschrieben wurden. (Esterházy, S. 183)
Stringenz ist nun auch kein Charakteristikum des zweiten Romans. Es handelt sich um einen Wälzer, cremefarben mit goldener Schrift, ein Frauenbild im Stil eines abnehmenden Mondes vorne und auf dem Buchrücken, hinten zunehmend ein Männerporträt. Ausgezeichnet mit dem Booker-Preis, Lobeshymnenauszüge hinten drauf. Übersetzt wurde der Roman von Melanie Walz, die unter anderem die Bücher von Antonia S. Byatt ins Deutsche übertragen hat. Sind Lesegenuß und Schmökerfreuden also programmiert?
Laut Shepard war er einen friedlichen Tod gestorben, an Alter, Krankheit und Trunksucht; es gab bislang keinen Grund, eine Gewalttat zu vermuten. (Catton, S. 127)
Wieland Freund bewundert in der „Welt“ den nachgeahmten Stil des 19. Jahrhunderts:
Kurzum: Es dürfte dies einer der monströsesten Plots der jüngsten Literaturgeschichte sein – vergleichbar nur mit Plots, wie sie Charles Dickens im Kopf behielt, während er in wöchentlichen Lieferungen „Bleak House“ oder „Große Erwartungen“ schrieb – Vielhundertseiter, bei deren Handlungsverläufen selbst gestählten HBO-Serien-Guckern schwindlig wird. Eleanor Catton agiert wie ein Hütchenspieler, und man weiß nie ganz genau, wer welches Hütchen ist und die 4000 Pfund in Gold gerade verbirgt.
Auch zu Esterházy gibt es positive Kritiken, etwa von Ulrich Rübenbauer in der Süddeutschen Zeitung:
Das Spiel, ein zauberhaftes dazu, ist die Literatur. Und mit der ist es wie mit dem Leben: Vom geplanten Weg kommt man gerne ab, wenn in Seitengassen kleine Sensationen lauern und nichtsnutzige Zerstreuungen. Bei Péter Esterházy verlocken Fußnoten, und das mit Witz und Esprit, sodass man den Hauptstrang (sic!) zuweilen aus den Augen verliert. Die Fußnoten entfalten ein Eigenleben, manchmal unterhalten sie sich mit dem Haupttext oder ersetzen ihn sogar; es werden darin echte oder falsche Zitate nachgewiesen und absurde Bemerkungen versteckt. Der Autor widerspricht sich, und manchmal widerspricht auch die wunderbare Übersetzerin Heike Flemming dem Autor. Aus Fußnoten erstehen neue Fußnoten, und bald ahnt man kaum noch, wo oben ist und wo unten. Esterházy reagiert mit diesem ausufernden Anmerkungsapparat nebenbei und raffiniert auf einen Plagiatsvorwurf, der ihn bei „Harmonia Caelestis“ ereilt hatte. „Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit“, heißt es bei Hugo von Hofmannsthal.
Mein erster Eindruck von Cattons Gestirnen lautete:
Weitschweifige und detailreiche Ausführlichkeit, plastisch, lebensdrall, bunt – so schwappt der Text geradezu aus dem Buch. Angesichts der sonst oft gebotenen schmallippigen Befindlichkeitsprosa oder gewollt-amputierender Sprachexperimente ist das sicher ungewöhnlich. Man muß sich auf den Duktus ebenso einlassen wie auf die Goldgräbergeschichte im fernen Neuseeland.
Mit allerlei Umständlichkeiten und Abschweifungen wird eine Geschichte erzählt, bei der viktorianische Ehr- und Moralvorstellungen sich in der rauhen Wirklichkeit einer neuseeländischen Kleinstadt bewähren müssen. Außerdem kontrastieren Sprache und Kultur der einheimischen Maori mit denen der eingewanderten Europäer. Dabei ist der Stil nicht mein Geschmack:
Der Kai umrundete die Flussmündung und endete an der Landzunge, einem schmalen Sandstreifen, der von der einen Seite die weißgichtige Brandung des Ozeans bedrängte und von der anderen das getrübte Wasser des Flusses bespülte, mit Salzwasser vermischt und seines Goldes beraubt. (Catton, S. 157)
Hunderte Seiten später – und immer noch weit vom Ende entfernt – lege ich das Buch erschöpft und irgendwie enttäuscht zur Seite. Das Buch packt mich einfach nicht, ich habe diesen Tausendseiter nicht bezwungen.
Demgegenüber kann das Fazit bei Esterházy am Ende der Lektüre und zeitlich dennoch deutlich früher gezogen werden. Das Buch ist völlig anders konzipiert, die unbändige Lust am Fabulieren führt nicht zu einem breiten Strom, sondern zu zu kleinen, sorgsam gezeichneten Vignetten, ja manchmal nur Splittern. Insgesamt entsteht so ein farbenprächtiges Mosaik, eine schillernde Blüte, genährt durch den Humus von Geschichte, Kultur und Literatur.
Der wankelmütige Charakter des Grafen ist vermutlich die direkte Folge der sich außerhalb der Ehe verschafften Wonne. (Esterházy, S. 170)
Mein Fazit:
Letztendlich war ich von beiden Büchern auf unterschiedliche Weise enttäuscht. Dem Esterházy mangelt es bei allem konzentrierten Detailreichtum an einer lohnenden Handlung, die Catton leidet an einer Überfülle von Adjektiven und Beschreibungen. Statt Esterházys Vignetten gibt es ermüdende Panoramen. Während Esterházy seine Simulation permanent decouvriert, wahrt Catton den Schein. Sie schlägt daraus aber keine Funken, wie etwa die vorerwähnte Antonia S. Byatt in ihrem grandiosen Roman „Besessen“, der das erfunden Viktorianische genial mit dem Geschehen der Jetztzeit verblendet.
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