Wirklich wieder Wagner?

In diesem Essay geht es – wieder einmal – um Richard Wagner, den Komponisten, Textdichter, Theoretiker und Musikunternehmer. Anknüpfungspunkt ist das »Wagner-Brevier«, das George Bernard Shaw im Jahr 1898 unter dem Titel »The Perfect Wagnerite« veröffentlichte, und dem ich die Monographie »Wagner, Der Ring des Nibelungen« aus der Feder von Volker Mertens (2013) zur Seite stelle.

Auch bei Shaw steht der »Ring« im Mittelpunkt seiner Ausführungen; für Shaw ist es ein zeitgenössisches Stück Theater und Auseinandersetzung mit Themen der Zeit. Folgerichtig kontrastiert er Wagner mit Marx. Mertens, der Literatur- und Musikwissenschaftler, nimmt nicht nur eine anders geartete Werkanalyse vor, sondern dabei auch die Aufführungsgeschichte und die Einspielungen auf unterschiedlichen Tonträgern in den Blick.

Shaws Buch erschien auf Deutsch im Jahr 1908 bei Fischer und dann erst 1973 wieder bei Suhrkamp; vor mir liegt die 14. Auflage 2014. In seinem Vorwort legt der große Joachim Kaiser den Finger in diese Wunde und verbindet die Kritik an deutscher Überheblichkeit mit dem Lob des Shawschen Texts. Diese Sicht habe während der Bärenfelljahrzehnte schmerzlich gefehlt. Shaw schreibt sein Buch als Dreißigjähriger, der als Musikkritiker in London erfolgreich wird, Mertens zieht die Summe einer fünfzig Jahre währenden Beschäftigung mit Wagner und seinem »Ring«.

Shaw und der Ring

Die Nacherzählung der Ringhandlung durch Shaw ist pointiert und ausführlich zugleich, sie verbindet präzise Wiedergabe mit klarer Analyse. Oft scheint die von ihm kurz zuvor unternommene Marx-Lektüre durch.

Dieser düstere Ort muß nicht unbedingt ein Bergwerk sein: es könnte ebenso eine Zündholzfabrik sein mit gelbem Phosphor, Knochenbrand, einer Riesendividende und einer Unmenge von Geistlichen als Aktionären. (S. 39)

Dieser Helm ist ein sehr gebräuchlicher Artikel auf unseren Straßen, wo er gewöhnlich die Form eines Zylinders hat. Er macht den Menschen als Aktionär unsichtbar und läßt ihn die verschiedensten Gestalten annehmen, etwa als frommer Christ, als Stifter für Krankenhäuser, als Wohltäter der Armen, als vorbildlicher Ehemann und Vater, als tüchtiger, praktischer, unabhängiger Engländer und vieles mehr. Dabei ist, wer ihn trägt, in Wirklichkeit ein erbärmlicher Parasit auf Kosten der Gemeinschaft, der viel verbraucht und nichts produziert, nichts fühlt, nichts weiß, nichts glaubt und nichts tut außer dem, was alle Welt tut, und auch das nur, weil er sich scheut, es nicht zu tun, oder nicht wenigstens eine Tätigkeit vorzutäuschen. (S. 40)

Das ist der Lauf der Welt. In früheren Zeiten, als der christliche Arbeiter vom verschwenderischen Adligen und der Verschwender wiederum vom jüdischen Wucherer ausgesaugt wurde, bemächtigten sich Kirche und Staat, also Religion und Gesetz, des Juden und saugten ihn aus im Namen des Christentums. Als die Mächte der Liebelosigkeit und der Habgier unsere eigenen, selbstsüchtigen kapitalistischen Systeme errichtet hatten, getrieben von nicht erkennbarem Eigentumsdenken, und die Armen ausbeuteten, die Erde verunstalteten und sich als weltweiter Fluch auch den Edelmütigen und menschenfreundlich Gesinnten aufzwangen, da hatten Religion, Gesetz und Intelligenz, die selbst niemals Systeme solcher Art entdeckt hätten, da sie auf Wohlfahrt,  Sparsamkeit und Leben anstatt auf Korruption, Verschwendung und Tod ausgerichtet waren, dennoch keine Skrupel, sich durch Betrug und Gewalt dieser Kräfte des Bösen zu bemächtigen unter dem Vorwand, sie für das Gute zu nutzen. (S. 43f.)

Klug verbindet Shaw das Rheingold mit Wagners Parteinahme während der 1848er Revolution, die er mit dem Verlust seiner Kapellmeisterstelle und dem Exil bezahlte.

Menschen, die keine ungefähren Vorstellungen, keinen Schimmer von der Sorge des Philosophen und Politikers um das Menschengeschlecht haben, können am »Rheingold« als Drama keinen Gefallen finden (S. 50)

Worauf läuft alles hinaus?

Vor allem müssen wir begreifen […], daß der Gott, da sein Wille auf ein höheres und erfüllteres Dasein gerichtet ist, sich in seinem Innersten nach dem Kommen dieser größeren Kraft sehnt, deren erste Tat, obwohl er das noch nicht begreift, seine eigene Vernichtung sein muß. (S. 57)

Genau dies ist später der Ansatzpunkt für Adolf Hitler, der sich selbst als Rienzi und Lohengrin, aber auch als Siegfried versteht, der das Alte zerschlagen muß, damit Neues entstehen kann. Wobei sich seine Zukunftsvision nicht die Freiheit des Menschen und auf Selbstbestimmung bezieht, wie Shaw das annimmt (S. 96), sondern auf das Überleben der „arischen Rasse“.

Soweit voraus kann Shaw natürlich nicht blicken, seine Darlegungen umfassen aber den langen Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren, der zwischen Wagners ersten Ideen und der Vollendung der Tetralogie liegt. Kundig erläutert er die Zeitumstände sowie die Entwicklung Wagners, sowohl in politisch-philosophischer als auch in musikalischer Hinsicht. Dabei weist er auf sich zwangsläufig einstellende Brüche und Widersprüche hin, befaßt sich mit dem musikalischen Stil und den dramatischen Konzept.

Anarchismus als Allheilmittel ist genauso hoffnungslos wie jedes andere Allheilmittel […]. (S. 107)

Viel Sorgfalt verwendet Shaw darauf nachzuweisen, daß »Götterdämmerung« eine klassische Oper darstellt – während heute ja oft die »Walküre« als der eigentliche Opernstoff begriffen wird. Sein Fazit ist eindeutig:

Dies alles ist, wie man sieht, nichts Neues. Die musikalische Struktur der »Götterdämmerung« ist zwar außerordentlich sorgfältig gearbeitet und großartig; man kann aber nicht wie bei »Rheingold«, der »Walküre« und den beiden Akten von »Siegfried« behaupten, man habe derartiges niemals vorher gesehen und die Idee sei völlig neuartig. Nicht allein die Handlung, sondern auch der größte Teil der Dichtung wären in einem elisabethanischen Drama denkbar. Die Situation von Kleopatra und Antonius wird hier unbewußt wiederholt, ohne besser oder auch nur, was die majestätische Pracht und den musikalischen Ausdruck angeht, gleichwertig zu sein. Das Fehlen jeglicher Schlichtheit und Würde, die Unmöglichkeit, die Vorfälle szenisch glaubwürdig darzustellen, und der äußerst theatralische Einsatz konventioneller Mittel, womit diese Unmöglichkeit überbrückt werden soll, werden in den Augen des normalen Zuschauers zweifellos verdeckt durch den überwältigenden Nimbus der »Götterdämmerung« als Teil eines so großen Werkes, wie ist der »Ring« ist, und durch den ungewöhnlichen Sturm von Ergriffenheit und Erregung, den die Musik auslöst. Aber gerade die Eigenschaften, die den Neuling in der Musik berauschen, klären den Eingeweihten auf. Trotz der Fülle technischen Könnens des Komponisten, trotz des vollendeten Stils und der offenbar mühelosen Beherrschung von Harmonie und Instrumentation gibt es in dem Werk nicht einen Takt, der uns so ergreift, wie die gleichen Themen in der »Walküre«, noch wird der Lebendigkeit und dem Temperament des »Siegfried« irgend etwas hinzugefügt, abgesehen von äußeren Glanz. (S. 126f.)

Warum also diese Inkonsequenz, warum der „opernhafte Anachronismus“?

Wagner war jedoch nicht der Mann, der sich erlaubt hätte, selbst nach fünfundzwanzig Jahren ein bedeutendes philosophisches Thema aus dem Griff zu lassen, wenn es die Probe der Welt bestanden hätte. […] Tatsache ist jedoch, daß nicht Siegfried, sondern Bismarck erschien. […] Die Siegfriede von 1848 waren hoffnungslose politische Versager, wohingegen die Wotane und Alberiche und Loges politisch sichtlich erfolgreich waren. (S. 131)

Wie Marx unterliegt auch Wagner als junger Mann einer Fehleinschätzung, aber – so Shaw – er erkennt dies.

Ausführungen zur Musik im 19. Jahrhundert, den Anforderungen an einen Komponisten  und zu den Wirkungen Wagners schließen sich an. Shaw lobt die Singbarkeit von Wagners Musik, die nicht nur im Bayreuther Festspielhaus gewährleistet sei.

Mertens und der »Ring«

Ein Lebensabriß, der bei einem Künstler natürlich eng mit dem Werk verwoben ist, eröffnet das Buch, und Merstens macht auf diesen ersten Seiten seine Leser mit der Arbeitsweise und den politischen Anschauungen Wagners bekannt. Es schließt sich ein Abschnitt an, in dem die akribische Einarbeitung in den Stoff einschließlich der Hinzunahme aktueller Kapitalismuskritik, die Niederschrift des Texts und schließlich der Musik dargestellt werden. Mertens macht deutlich, daß Wagner den ursprünglichen Nibelungenstoff um wichtige Elemente anderer nordischer Mythendichtung ergänzt, aber auch gekonnt mit antiker Mythologie verbindet, was seinem bildungsbürgerlichen Publikum vielfältige Anschlußmöglichkeiten eröffnete.

Mertens bietet eine detaillierte Inhaltsangabe des »Rings«, die er mit Informationen zur Besetzung des Orchesters und zum Stimmumfang der Sänger ergänzt. Graphische Darstellungen erläutern die Verbindungen zwischen den Personen, das „Ringen um den Ring“ (oder später zu den einzelnen Abenden) und zeigen einen Querschnitt durch den Bayreuther Orchestergraben. Anschließend nimmt der Autor Erläuterungen der Kompositionsweise vor, die an die – vor allem beethovensche – Sinfonik anknüpfte, aber auch traditionelle Opernelemente enthält (auch jenseits der Götterdämmerung).

Wie lässt sich eine solche Musik halbwegs beschreiben? (S. 62)

Seine Zweifel hintanstellend unternimmt es Mertens auf rund sechzig Seiten, dem Herzstück des Buches, eine sehr ausführliche, mit vielen Notenbeispielen versehene und imaginative Beschreibung der Musik zu liefern. Natürlich spielen hier die berühmten – und von Shaw wenig geschätzten – Leitmotive eine wichtige Rolle, aber es geht auch um die Wirkung und den Einsatz von Akkorden oder klassischen Opernelementen (Chören, Tempesta, Coda) sowie  um den Charakter größerer Abschnitte und ganzer Szenen. Verbindungen zu Kompositionen von Rossini und Beethoven werden gezogen, die Beschreibung des »Walküren«-Finales schwankt – völlig zu Recht! – zwischen Genauigkeit und Poesie.

Unter dem Titel „»Ring«-Aspekte“ greift Mertens Fragen wieder auf, die in den beiden Längsschnittdarstellungen  angeklungen sind, und vertieft oder komprimiert sie hier, so daß man sie nicht im Text zusammensuchen muß, sondern gezielt zur Hand nehmen kann. Die Idee des Gesamtkunstwerks, die Bedeutung des Mythos, die Leitmotive, Dichtung, Gesang, Revolution – das sind nur einige der Themen, die sich hier finden. Präzise sind auch die Ausführungen zu Adolf Hitler und seinem Verhältnis zu Richard Wagners Musik (S. 154-157).

„Noch niemals hat eine Sieglinde ihn auch nur annähernd zu erreichen gewusst.“

So schilderte die berühmte Lilli Lehmann Wagners Regiearbeit. Sänger- und Musikerauswahl, intensive Probenarbeit – Wagner wollte die Aufführungen seiner Werke optimal vorbereiten und gestalten. Mertens schildert den Ur-»Ring«, dessen Nachleben als Wanderproduktion – und beste Werbung für das Werk, das sich angesichts der Anforderungen erstaunlich schnell durchsetzte: 1901/02 wurde der Ring an 22 deutschsprachigen Bühnen gespielt, 1910/11 bereits an 43. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden – außer in Bayreuth – modernere Sichtweisen präsentiert, ironischerweise geschah dies dort erst unter Hitler, der ja für Germanentümelei in der Kunst wenig übrig hatte. Schlaglichter auf Neu-Bayreuth (abstrakt) und die Interpretationen nach dem Zweiten Weltkrieg an anderen Bühnen bis hin zum »Jahrhundert-Ring« in Bayreuth  (kritisch-politisch) leiten über zu Neuansätzen der 1980er Jahre. Zu Recht nimmt hier der »Götz-Friedrich-Ring« an der Deutschen Oper Berlin mit dem beeindruckenden Zeittunnel  (inzwischen nicht mehr zu sehen, 2019 wollen Deutsche Oper und Staatsoper jeweils eigene Neuinszenierungen auf die Bühne bringen) eine wichtige Rolle ein. Andere Deutungsversuche erweisen sich als kurzlebiger.

Ganz anders das Werk selbst. Es ist auch nach fast 150 Jahren noch gefragt und lebendig. Darüberhinaus hat der »Ring« die Kunstform Oper stark beeinflußt, echte Literaturvertonungen sind vorstellbar und realisierbar geworden. Mertens nennt unter anderem »Salome«, »Elektra« und »Wozzeck«. Wenig Erfolg hingegen war Komponisten mit anderen zyklischen Werken beschieden. Mertens hebt den Einfluß von Wagners Musik auf die Filmmusik hervor und berichtet über das literarische Echo auf Wagners Werk, bei Franzosen wie Mallarmé und Verlaine und später vor allem bei Thomas Mann.

Wichtig für den Melomanen und pointiert formuliert ist der Abschnitt über die vorliegenden Gesamtaufnahmen sowie die Aufnahmen einzelner Sänger der Zwischenkriegszeit und verschiedene Walküren. Kurze Ausführungen zu verfügbaren Videoaufnahmen schließen sich an; es folgen Gesprächsausschnitte mit Wagner-Interpreten von Evelyn Herlitzius bis Christian Thielemann.

Man braucht ja ohnehin mehr als eine Aufnahme vom Ring. (S. 195)

Fazit

Zwei ganz unterschiedliche Bücher über das gleiche Thema. Hier der Zeitgenosse, fasziniert von der politischen Botschaft und den Entstehungsbedingungen sowie der ersten, authentischen Aufführungspraxis, dort der Wissenschaftler und Liebhaber, der sich jahrzehntelang mit Komponist und Werk beschäftigt. Letzterer verfaßt ein handbuchartiges Nachschlagewerk, ersterer eine Mischung aus Analyse und Kampfschrift. Beide Bücher ergänzen sich gut und seien allen Interessierten empfohlen.

 

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