George Prochnik, Das unmögliche Exil. Stefan Zweig am Ende der Welt, München: C.H. Beck, 2016, 397 Seiten.
Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 und dem Ende des Dritten Reiches am 8. Mai 1945 etwa 500000 Menschen aus Deutschland emigrierten.
So heißt es in einer Veröffentlichung des Klett-Verlags, die unter dem Titel „Emigration und Exil infolge des Nationalsozialismus 1933–1945“ als PDF-Datei frei verfügbar ist.
Die Zahl ist gleichzeitig hoch und – ebenso erschreckend wie lächerlich – gering und insofern Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von Fragen – doch darum soll es an dieser Stelle nicht gehen. Viele dieser Menschen waren jüdischer Abstammung oder jüdischen Glaubens, ein kleinerer Teil waren dezidiert politische Gegner des Regimes, viele gehörten zu den wissenschaftlichen, künstlerischen oder wirtschaftlichen Eliten Deutschlands und Österreichs.
Zu den Österreichern, Schriftstellern und Juden gehörte Stefan Zweig, 1881 geboren, Autor erfolgreicher historischer Romane und kürzerer Erzählungen, weitgereister und weltgewandter Großbürger. Prochniks Buch erzählt, wie das Exil, der unfreiwillige Ausnahmezustand, Zweig entwurzelte, erschöpfte und brach.

Foto: nw2016
Mit vielen Rückblenden verknüpft der Autor die Exilerfahrung mit den früheren Leben Zweigs, um das biographische Bild abzurunden. Zum Schluß der Lektüre hin fand ich das Mäandern des Erzählflusses aber doch etwas unbefriedigend.
Beim Lesen habe ich immer wieder »Thomas Mann, der Amerikaner« von Hans Rudolf Vaget im Kopf, das ich im Jahr 2012 las. Auch hier ging es um die große Umgewöhnung, die fremde Sprache, das schwierige Verhältnis zu den anderen, meist deutlich weniger privilegierten Exulanten – zuvörderst der eigene Bruder. Interessant, wie unterschiedlich beide Schriftsteller mit der Situation umgingen. Frappierend auch, daß beide Herren absolute Ruhe zum Arbeiten brauchen und von ihren Ehefrauen dementsprechend abgeschirmt werden, im Falle TMs muß auch die Kinderschar früh lernen, daß der Zauberer nicht gestört werden darf.
Vaget bezieht sich bei seiner Bewertung des Schriftstellers im Exil übrigens – wie ich finde, mit großem Gewinn – auf die in Joseph Horowitz‘ Buch »Artists in Exile. How Refugees from Twentieth-Century War and Revolution Transformed the American Performing Arts« vorgenommene Analyse. Es geht um die Aufgeschlossenheit gegenüber Amerika und den Austausch mit sowie Beitrag zur Kultur des Gastlandes. Dabei, so paraphrasiert Vaget Horowitz, hätte sich gerade die Deutschen im Bewußtsein ihrer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit unendlich schwer getan, viel schwerer als beispielsweise die Russen. Horowitz vergleicht hier Thomas Mann und Vladimir Nabokov. Verglichen mit Zweig ist Mann also zwar besser durchgekommen, aber gleichfalls nicht angekommen. Vaget weist auf Grenzen des Horowitzschen Ansatzes hin, sieht in der amerikanischen Perspektive auf die Ankömmlinge aber ein notwendiges Korrektiv zu den üblichen, germanozentrischen Fragestellungen.
Schon die Exiletappe in Frankreich zeigte, pointiert skizziert von Sybille Bedford (S. 217), die Selbstbezogenheit der geflüchteten Autoren. Daran sollte sich auch in Amerika kaum etwas ändern. Den amerikanischen Büchermarkt verachtete Zweig, dort reüssiere nur Massenware (S. 236) – die eigene, sehr große Popularität in Brasilien aber, die er bei seinem ersten Besuch im Jahre 1936 kennenlernte, nahm er dankbar hin (S. 310ff.). Martin Gumpert, den Prochnik paraphrasiert, diagnostizierte eine unsanfte Begegnung der zu Hause privilegierten Schriftsteller mit der Realität der Massen- und Mittelklassengesellschaft (S. 238f.).
Seit Wochen sehe ich ganz rigoros keinen Menschen. (S. 340)
Prochnik schildert gekonnt die Person Zweigs und läßt einen Menschen sichtbar werden, der einen tiefgreifenden Wandlungsprozeß erlebt und sich davon und dem damit verbundenen Wegbrechen seiner Lebensgrundlagen nicht erholt, dessen Leben entzwei ging, dessen Illusionen zerplatzt sind. Hochinteressant sind die Passagen über das Leben der Juden in Wien und über die Fallstricke der spezifischen Wiener Art von Assimilation. Zweig war – und das wurde ihm in seinem letzten Lebensjahrzehnt immer deutlicher – ein echter „Außenseiter“ im Sinne des (späteren) Buchs von Hans Mayer. Er schätzt Theodor Herzl, den er als junger Mann kennenlernt, aber Zweig wird kein Zionist, weil er den Nationalismus ablehnt.
Die Schilderung der Wiener Gesellschaft, Kultur und Literatenszene, versinnbildlicht in den Kaffeehäusern, gerät dem Autor zu einer wahren Pathogenese des Nationalsozialismus, der in Wien auf ein Kartenhaus trifft, das er – nach der Zäsur des Ersten Weltkriegs – nurmehr umblasen muß.
Die Darstellung auf den Seiten 212-213 erinnert auf fatal-frappierende Weise an die heutigen Diskussionen über Flüchtlinge:
Trotzdem [maximal 300.000 Flüchtlinge aus Europa kamen zur NS-Zeit in die USA] herrschte aufgrund einer Mischung aus bewusster Propaganda und allgemeiner Paranoia das Gefühl vor, Amerika werde so sehr von Exilanten überschwemmt, dass Arbeitsplätze und sogar die Demokratie selbst in Gefahr seien. In einer Industriestadt in der Nähe von New Haven machte sich das Gerücht breit, Amerikaner würden von heute auf morgen aus Fabrikjobs gedrängt, um Platz für Immigranten zu schaffen. Das Arbeitsministerium nahm die sechs wichtigsten Firmen der Stadt unter die Lupe und kam zu dem Schluss, «dass ein einziger Flüchtling in einer der Fabriken als Fahrstuhlführer eingestellt wurde. Diese Stelle wurde extra für ihn geschaffen, niemand wurde ersetzt.» In New York kursierte 1938 «Flüsterpropaganda», die behauptete, in den großen Warenhäusern würden so viele Flüchtlinge eingestellt und Amerikaner entlassen, dass Kunden inzwischen Deutschwörterbücher zum Einkaufen mitnehmen müssten. Die Bezichtigungen nahmen immer größere Dimensionen an, sodass sich die Geschäftsführer der großen Kaufhäuser gezwungen sahen, den Gerüchten öffentlich zu widersprechen: So ließ Bloomingdale’s wissen, unter den 2653 Angestellten sei genau ein Verkäufer, der aus Deutschland geflohen sei. «Keine einzige Person wurde bei uns je entlassen, um für einen Flüchtling Platz zu machen», betonte man.
Die kulturelle Fremdheit, die gesellschaftlich prekäre Situation, Ungeschicklichkeit im Adaptieren der neuen Situation, mitunter ein Angewiesenen auf die eigenen Kinder – all das nahm die Exulanten nicht für Amerika ein. Wohl dem, der arbeiten, also schreiben konnte, der noch Worte fand. Zweig schrieb seine Autobiographie, »Die Welt von gestern«. Prochnik begreift das Buch als – leider unzureichenden – Versuch Zweigs, mit der Gegenwart fertig zu werden, und gleichzeitig als großartiges Vermächtnis des Autors, als Teil seiner lebenslangen Bildungsmission.
Interessant ist die Gegenüberstellung von Österreich und Brasilien, vom Klima bis zur völlig gegensätzlichen Sexualmoral. Ob daraus epochenübergreifende Aussagen zu Gewaltpotentialen von Gesellschaften gemacht werden können, bleibt offen, ist aber natürlich auch für uns heutige interessant.
Politisch erscheint der Humanist Zweig immer wieder etwas naiv bei seiner Einschätzung von Regimen– ob in Deutschland oder Brasilien –, aber seine moralische Integrität gleicht das dann doch ebenso aus wie seine unbändige Wertschätzung der Freiheit.
Prochniks Schilderung von Zweigs Lebensende gerät für meinen Geschmack ein wenig kitschig, wie insgesamt auch die Schlußfolgerungen allzu gefühlig ausfallen – und den politischen Rechtsruck in Österreich erstaunlicherweise völlig ausblenden.
Mein Fazit lautet gleichwohl, daß es sich um ein äußerst lesenswertes Buch handelt. Dies ist in erster Linie dem Gegenstand geschuldet, bezieht sich in weiten Teilen aber auch auf die Darstellung selbst und den gewählten Zugriff.
Gerade nachdem Stefan Zweig durch den Film „Vor der Morgenröte“ wieder in unser Bewusstsein gerückt ist, bietet es sich an, das Thema Exil genauer aufzuarbeiten, als es in dem Film möglich war. Deshalb finde ich diesen Literaturtipp sehr spannend.
Pingback: Leseliste 2016 – 3 | notizhefte
Pingback: Beiträge des Jahres 2016 | notizhefte
Pingback: Etappe: Ostende 1936 | notizhefte
Pingback: Der Blog im Jahresrückblick | notizhefte
Pingback: Unterdrückung, Flucht, Exil | notizhefte
Ich bin großer Fan von Stefan Zweig. „Die Welt von gestern“ ist mein Favorit. Auch hier sind Vergleiche in die aktuelle Zeit lesbar. Absolute Empfehlung.