Es war einmal ein Land, aus dem die Menschen flohen…

Für das Buch »Kruso«, seinen ersten Roman, erhielt Lutz Seiler im Jahr 2014 den Deutschen Buchpreis. Ich las erst jetzt, im März 2015, die schön gestaltete Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg in türkisfarbenem, changierendem Leinen mit einer blauen Welle auf dem Titel (sowie auf U2 und U3). Die Preisvergabe war in den Blogs durchaus kontrovers diskutiert worden (Überblick).

Das Thema der Republikflucht, die Abkehr von der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer vermeintlich unaufhaltsamen Erfolgsgeschichte ist nun keines, das in wenigen Monaten welk zu werden drohte. Die literarische Auseinandersetzung mit dem Land, das es nicht mehr gibt, aber viele Menschen nach wie vor bewegt, ist wichtig, gerade angesichts der Tendenz zu verklärender Betrachtung.

Ed lebt ein Leben neben der realsozialistischen Spur, und als ihn nach der Freundin auch noch die Katze verläßt, kehrt er seinem Studienort Halle den Rücken, um sich auf nach Hiddensee zu machen. Die kleine Insel wird als Ort am Rande vorgestellt, von einer entrückten Deplaziertheit, so daß sie, wie man gleich spürt, zum rechten Ort für Ed werden kann. Die Schilderungen über das Leben in der DDR aus der Perspektive eines anwesenden Nichtdazugehörenden wirken gerade auch im persönlichen Lebenskreis trost- und freudlos.

Alles in seiner Kindheit war praktisch gewesen, »Wie praktisch!« galt als höchsten Lob: ein Klapprad, ein Klappbett (das man tagsüber wegklappt an die Wand, wo es zu einer Art Schrank mutierte) und Kleidungsstücke von nahezu unbegrenzter Haltbarkeit. (S. 55)

In der Gastwirtschaft Zum Klausner  findet Ed dann mehr als nur einen Unterschlupf, Ort und Besatzung vermitteln ihm vielmehr allmählich ein Heimatgefühl, lassen ihn Aufgehobensein erfahren. Dabei spielt die Titelgestalt, Alexander Krusowitsch, Kruso also, eine wichtige Rolle. Seiler breitet eine Fülle detailreicher Schilderungen vor seinen Lesern aus; sie behandeln die Natur, Insel und Meer, aber auch den Betrieb vor und hinter den Kulissen – hier lassen die hygienischen Zustände mich gelegentlich beim Lesen schaudern – sowie die Beziehungen zwischen den „Besatzungsmitgliedern“ untereinander und die sich neu zu Ed entwickelnden.

Seiler hat seine Erzählung und seine Figuren im Griff; er behält den Überblick und entwickelt den Plot überzeugend, wenn auch gelegentlich eine handlungsarme Langatmigkeit nicht zu übersehen ist. Dabei findet er eine oft behutsame Sprache, die individuelle Befindlichkeiten ebenso gut auszudrücken vermag wie ein landestypisches Lebensgefühl.

Warum tat es so gut, wenig zu reden? (S. 108)

René trug echte Jeans und einen brauen Stielkamm in der Gesäßtasche. (S. 113)

Überhaupt schienen alle Menschen nackt zu sein im Norden der Insel, weshalb Ed Richtung Osten abbog. (S. 117)

Hinter der Abbiegung zu Krusos Zimmer begann der gute Geruch Monikas, genauso, wie Ed sich den Geruch von Apfelsinen vorstellte. Bis dahin war er der kleinen Unsichtbaren nur ein einziges Mal begegnet. Aber auch Apfelsinen hatte er schließlich nur ein einziges Mal gegessen, in seiner Kindheit, im Mai 1971, als eine Wochen plötzlich Südfrüchte im Angebot waren, wegen des Machtwechsels – »aufgrund des Umschwungs«, wie sein Vater ihm damals erklärte. (S. 122)

Normale Fragen unter Männern, die es gewohnt waren, eine Schreibmaschine zu benutzen. (S. 141)

Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten. (S. 164f.)

Um diesen Freiraum für die Leute vom Festland kümmern sich die Saisonkräfte (EssKaas) unter der Leitung von Kruso in ihrer Freizeit, während sie hauptberuflich die urlaubenden verdienten Werktätigen bedienen. Von zentraler Bedeutung ist nach meinem Eindruck das Kapitel „Schwarze Quartiere“ (S. 164-175):

Das Festland bildete dafür aber nicht mehr als eine Art Hintergrund, der langsam verwischte und erstarb im immerwährende Rauschen des Meeres; was war schon der Staat? (S. 165)

Kruso spricht von dem Tag, „an dem das Maß der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der  Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt“, ohne die Vision dieses „großen Pochen[s]“ genauer auszumalen. Als dann später die große Fluchtwelle spürbar wird, prophezeit Kruso, daß der Konsumrausch nur kurz sein werde („Täuschungen der Warenwelt“, S. 359), weil den Menschen das Eigentliche vorenthalten werde. Doch die Rückkehr in die Parallelwelt Hiddensee ist für die meisten keine ernstzunehmende Option. Denn nur Kruso verschmilzt eine traumatische Kindheitserfahrung mit einer Erlösungsvision, die dem Warten am Strand eine existenzielle Bedeutung verleiht.

Obwohl die Erzählzeit recht kurz ist, sich Ed also gar nicht so lange auf der Insel aufhält und Seiler durchaus Daten nennt, dehnt sich die Zeit im Text. Und trotz des Grundrauschens aus Viola, das der Deutschlandfunk in ritueller Wiederholung, durchsetzt mit tagesaktuellen Fragmenten liefert, ist die Welt ins Ungewisse entrückt, das Geschehen in Ungarn weit weg, bis im Spätsommer die Lücken auch in der Besatzung des Klausners erkennbar werden. Im Moment des drohenden Verfalls zeigt sich auch noch einmal kurz und ergebnislos die Staatsmacht. Ansonsten Auflösung, Unordnung. Alles geht entzwei. Am Ende heißt es:

Alle Grenzen waren offen. Offen seit Tagen. (S. 434)

Nicht nur die DDR schaut aus einer vergangenen Zeit zu uns herüber, auch am Programm des Deutschlandfunks ist trotz aller Konstanz die Zeit nicht spurlos vorübergegangen: Die Zeit der Reiserufe ist vorbei und die Nationalhymne zum Tagesausklang wird um die Europahymne ergänzt, um nur zwei Kleinigkeiten zu benennen.

Bewegend dann auch der Epilog. Sehr bewegend.

Ich kann mir vorstellen, daß Ostdeutsche, die 1989 schon erwachsen waren, sich entweder ganz oder gar nicht in diesem Text wiederfinden. Für mich als Westdeutschen ist es eine glaubhafte Version, trotz ihrer Fremdheit nachvollziehbar. Ein wichtiges Buch, freilich kein modernes Gegenstück zum Zauberberg, wie Elke Schmitter es ausdrückte.

 

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2 Antworten zu Es war einmal ein Land, aus dem die Menschen flohen…

  1. Xeniana schreibt:

    Ja genau:) Ich habe mich in dieser DDR nicht wiederfinden können.Leider war“Kruso“ ein Buch, dass ich nicht ausgelesen habe. Ich kam einfach nicht rein in diese Geschichte. Aber es steht noch mahnend im Regal.Ausgebürgert ist es also noch nicht:)

  2. Pingback: Leseliste 2015 – 1 | notizhefte

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