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Der ausführliche Untertitel „Ein Lehrbuch der Kunst in Berlin spazieren zu gehen ganz nah dem Zauber der Stadt von dem sie selbst kaum weiß ein Bilderbuch in Worten“ charakterisiert das 1929 erschienene, detailreiche Buch. Hessel, der Paris und Berlin gleichermaßen kannte und schätzte, übersetzte u.a. Werke von Casanova, Balzac und – gemeinsam mit Walter Benjamin – Proust. Er mußte vor den Nazis fliehen und starb 1941 im französischen Exil. Das Buch läßt die Zwischenkriegszeit aus der Perspektive des privilegierten Beobachters, der sich Zeit nimmt, langsam geht, Orte und Menschen gezielt aufsucht und ebenso treffend wie lebendig beschreibt, vor dem Auge des Lesers wieder auferstehen.
Die Spaziergänge, die Franz Hessel unternimmt, führen ihn durch ein überraschendes Berlin. Man sieht mit seinen Augen auf die Stadt in den „Goldenen Zwanzigern“, liest vom pulsierenden und modernen Großstadtleben, von spektakulären Bauten und technischen Errungenschaften. Mittendrin dann aber immer wieder das alte Berlin, im Nicolaiviertel etwa oder die Gegend um die Jüdenstraße mit orthodoxen Juden aus Osteuropa.
Und die Stadt wird noch anders aufgefaßt: „Im Südwesten sind Wilmersdorf und Schöneberg mit Berlin und Charlottenburg völlig verwachsen, lehrt Baedeker.“ (S. 271) Der Sportpalast eröffnet den Gang durch diesen Südwesten, unschuldig noch, aber schon bereit für das, was wir Heutigen untrennbar mit diesem Raum verbinden:
„Londoner und Pariser in Sweater und Halstuch sind gewiß auch große Sportkenner und -enthusiasten, aber sie haben ältere Erfahrungen teils im Sport, teils in Weltstadtfreude überhaupt. Hier aber sitzest Du neben dem jüngsten Großstädter. […] Er fiebert im Massenrausch.“ (S. 272)
Hessel fährt kurz darauf fort:
„Sport ist international und kennt keine politischen Parteien. Aber sein Palast steht auch der politischen Leidenschaft offen. Große Kundgebung der Nationalsozialisten wird angekündigt. Die Hallen füllen sich. Vor den Toren patrouilliert die Polizei, denn man rechnet mit Gegendemonstrationen der ‚Roten‘ draußen. […] All das nimmt der Sportpalast mit einer Art riesenhafter Gutmütigkeit in seine runden Weiten. Mit unparteiischem Echo dröhnen seine ‚Hakenkreuz am Stahlhelm‘ und ‚Auf zum letzten Gefechte‘ wieder wie die Zurufe der Sportfreunde. Es ist ja alles Überschwang derselben ungebrochnen Lebensfreude.“ (S. 274)
Nach einem Schwenk durch den Stadtpark geht es zum nördlich gelegenen
„rühmlich bekannte[n] ‚Bayrische[n] Viertel‘. Wieviel man davon zu Berlin, zu Schöneberg oder zu Wilmersdorf rechnen soll, weiß ich nicht. […] Durch Wilmersdorf und Friedenau führt die lange Kaiserallee, umgeben von Wohnvierteln, die sich aus alten Dörfern und Villenkolonien gebildet haben. […] Wo die Kaiserallee in die Schloßstraße mündet, fängt Steglitz an. Es beginnt hochmodern mit einem hochragenden Filmpalast, an dessen Flanken in strahlenden Röhren das Licht flutet, in dessen Innern strenge Linien und kühne Wölbungen Zuschauer und Bühnenraum umschweifen.“ (S. 277f.)
In einem weitausgreifenden Bogen geht es bis zum Golfplatz zwischen Wannsee und Potsdam und dann mit dem Wagen zurück in die Stadt
„und zwar über die Avus, die berühmte Automobil-Verkehrs-und-Übungsstraße. Dort lernen wir, die wir in diesem Artikel noch nicht so erfahren sind wie hier jeder Junge von zehn Jahren, die verschiedenen Automobilmarken im Vorbeifahren unterscheiden, und von manchen wie jenem großen Hispano, diesem eleganten Buick, dem schlanken ganz roten, dem kleinen ganz weißen Wagen nennt Athene den Besitzer oder die Dame am Steuer, während die kleinen Bäume hinter dem Zaun und die Reklameschilder am Straßenrand schräg in unsere Fahrt sinken. Langsamer gleiten wir dann durchs nördliche Tor, und hinterm Funkturm geht es noch einmal mit achtzig oder mehr Kilometer auf den Tiergarten zu.“ (S. 281)
Hessel mag ich sehr gern, sein Stil ist wunderbar! Weil es so gut zu deinem Beitrag passt, hier ein Link zu einem etwas älteren Beitrag, in dem es um ihn und weitere Flaneure geht: http://phileablog.wordpress.com/2012/09/21/flanieren-mit-flaneuren/
Liebe Grüße
Petra
Liebe Petra,
den schönen Flanier- und Flaneurbeitrag habe ich gerade gelesen; ein feines Thema, das im
Alltag leider oft zu kurz kommt, weil wir es alle immer eilig haben.
Viele Grüße
Norman
Wie wahr! Den Beitrag schrieb ich damals kurz vor unserem Urlaub in der Normandie. Dort, in Trouville, Deauville, Cabourg, Honfleur und weiteren wunderhübschen Orten haben wir dann aber ausgiebig Muße zum Flanieren gehabt : ) Schade, dass man sich das nicht immer in den Alltag retten kann. Aber wenigstens die schönen Erinnerungen und Eindrücke.
Hallo, das liest sich hoch interessant. Auch damals war schon derjenige privilegiert, der langsam geht. Manches ändert sich nie… Grüße. Leo
Hallo Leo,
eile mit Weile… Interessant sind aber auch die achtzig Sachen, mit denen man durch Charlottenburg brauste.
GRüße zurück
Norman