„Warum gabst du uns die Tiefen Blicke
Unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun
Unsrer Liebe, unserm Erdenglücke
Wähnend selig nimmer hinzutraun?
Warum gabst uns Schicksal die Gefühle
Uns einander in das Herz zu sehn,
Um durch all die seltenen Gewühle
Unser wahr Verhältnis auszuspähn.Ach so viele tausend Menschen kennen
Dumpf sich treibend kaum ihr eigen Herz,
Schweben zwecklos hin und her und rennen
Hoffnungslos in unversehnem Schmerz,
Jauchzen wieder wenn der schnellen Freuden
Unerwarte Morgenröte tagt.
Nur uns Armen liebevollen Beiden
Ist das wechselseitge Glück versagt
Uns zu lieben ohn uns zu verstehen,
In dem Andern sehn was er nie war
Immer frisch auf Traumglück auszugehen
Und zu schwanken auch in Traumgefahr.Glücklich den ein leerer Traum beschäftigt!
Glücklich dem die Ahndung eitel wär!
Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt
Traum und Ahndung leider uns noch mehr.
Sag was will das Schicksal uns bereiten?
Sag wie band es uns so rein genau?
Ach du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau.Kanntest jeden Zug in meinem Wesen,
Spähtest wie die reinste Nerve klingt,
Konntest mich mit einem Blicke lesen
Den so schwer ein sterblich Aug durchdringt.
Tropftest Mäßigung dem heißen Blute,
Richtetest den wilden irren Lauf,
Und in deinen Engelsarmen ruhte
Die zerstörte Brust sich wieder auf,
Hieltest zauberleicht ihn angebunden
Und vergaukeltest ihm manchen Tag.
Welche Seligkeit glich jenen Wonnestunden,
Da er dankbar dir zu Füßen lag.
Fühlt‘ sein Herz an deinem Herzen schwellen,
Fühlte sich in deinem Auge gut,
Alle seine Sinne sich erhellen
Und beruhigen sein brausend Blut.Und von allem dem schwebt ein Erinnern
nur noch um das ungewisse Herz
Fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern
Und der neue Zustand wird ihm Schmerz
Und wir scheinen uns nur halb beseelet
Dämmernd ist um uns der hellste Tag.
Glücklich daß das Schicksal das uns quälet
Uns doch nicht verändern mag.“
An Charlotte von Stein, 1776
Münchner Ausgabe 1987, Bd. 2.1, S. 20ff.
Goethe sandte das sogenannte Anamnesis-Gedicht mit einem Brief vom 14. April 1776 an Charlotte von Stein. Seit dem 7. November 1775 lebte Goethe in Weimar, wo er ihr alsbald begegnete und sie umgehend zu einer der wichtigsten Bezugspersonen für den Dichter wurde. Erst im Frühjahr 1781 erklärte ihm die unglücklich verheiratete Frau ihre Gegenliebe, worauf Goethe mit einer erkennbaren Zurückhaltung in Briefen und Gedichten reagierte („Den einzigen, Lida, welchen du lieben kannst,/Forderst du ganz für dich und mit Recht.“, 1781). Als er 1786 bei Nacht und Nebel nach Italien floh, wurde Charlotte von Stein überrascht wie alle anderen. Dies trug sie ihm lange nach; erst viel später erwuchs ihre Freundschaft neu. 1820 bilanzierte Goethe und wies ihr („Lida“) einen hohen Rang für sein Leben und Werk zu:
„Zwischen beiden Welten
Einer Einzigen angehören,
Einen Einzigen verehren
Wie vereint es Herz und Sinn!
Lida! Glück der nächsten Nähe,
William! Stern der schönsten Höhe,Euch verdank‘ ich was ich bin.
Tag‘ und Jahre sind verschwunden,
Und doch ruht auf jenen Stunden,
Meines Wertes Vollgewinn.“