Beginn der Barbarei in Deutschland

Bernard von Brentano, Beginn der Barbarei in Deutschland, 1932, Neuauflage 2019, 313 Seiten.

Bernard von Brantano, Der Beginn der Barbarei in Deutschland | Foto: nw2020

Bernard von Brantano, Der Beginn der Barbarei in Deutschland | Foto: nw2020

Wie gut altern tagesaktuelle Texte? Das war eine der Fragen, die mich beim Lesen dieses Buches immer wieder beschäftigt hat.

Es handelt sich um eine rasante Mischung aus Essay und Pamphlet, aus Reportage und Kompilation von Zeitungsartikeln, Verbandsmitteilungen und Interviews. Der hektisch-reißerische Stil der späten Zwanziger wird kontrastiert mit Versatzstücken aus dem Seminar über Marxismus-Leninismus. Es ist ein sprachlicher Strudel, aus dem der harte Arbeitstag in der Industrie ebenso hervorspäht wie das Elend der proletarischen Massen auf der einen und das Gewinnstreben der großen und kleinen Kapitalisten auf der anderen Seite.

Der Autor

Bernard von Brentano (1901-1964) stammte aus einer deutschen Politiker- und Künstlerfamilie; sein Vater Otto Rudolf (1855-1927) war Rechtsanwalt und Zentrumspolitiker als Minister und Abgeordneter, sein Bruder Heinrich (1904-1964) wurde nach dem Krieg Außenminister und war lange Jahre Vorsitzender der Bundestagsfraktion von CDU/CSU. Bernard war nach dem Studium ausschließlich als Journalist und Schriftsteller tätig. Sein Roman »Theodor Chindler« ist eine lesenswerte gesellschaftspolitische Studie der Kaiserzeit.

Das Buch

Dieses Buch veröffentlichte er 1932 als Ergebnis einer zweijährigen Recherche. Kurze Zeit später waren die Nationalsozialisten an der Macht und Studenten verbrannten Bücher, deren Autoren und / oder Inhalt sie für „undeutsch“ hielten. Brentano gehörte dazu.

Brentano schaut mit seinem Buch dorthin, wo es nichts Heroisches oder Erhabenes zu sehen gibt. Er zeigt Mühsal und Plage, Armut und Ausbeutung, Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit. Er zeigt dies durch direkte Beschreibung, durch Zahlenkolonnen und Tabellen, aber auch durch die Phrasen von Verlautbarungen und Programmschriften.

Die Republik, so Brentano, hat den Arbeitern und Bauern auf wirtschaftlichem Gebiet nichts gebracht. Der Monopolkapitalismus besteht unverändert fort und die SPD hat den Staat gerettet, um nun an der Unterdrückung der Arbeiter mitzuwirken.

Für Brentano ist die abgewürgte Revolution, das verhinderte Sowjetdeutschland das Kainsmal der Republik. Der Staat dient dem Monopolkapitalismus, er verachtet und vergeudet das Leben seiner Arbeiter. Deren Klassenbewusstsein ist zerstört durch die Kapitalisten und preisgegeben durch die SPD. Vertane Jahrzehnte seit Marx’ Erkenntnis und erneut seit Lenins Tat – so seine Analyse.

Die Lehren

Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es, aber auch, daß man aus Fehlern lernen müsse. Im Fall der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gab es viele Fehler. Gibt es also auch viel zu lernen? Und was bedeutet das eigentlich?

Ernst Fraenkel, damals Gewerkschaftsanwalt, schlug 1932 vor, ein konstruktives Mißtrauensvotum in die Verfassung aufzunehmen, damit ein Reichskanzler nicht nur gestürzt werden könne, sondern immer auch wieder ein neuer Reichskanzler gewählt werden müsse. Diesen Stabilitätsmechanismus enthält das Grundgesetz in Art. 67. „Wir“ haben also aus der Geschichte gelernt und vorbeugend einem rein destruktiven Parlamentarismusverständnis einen Riegel vorgeschoben; andere Vorschriften sichern dies ebenfalls ab. Letztendlich, so die Vorstellung, müsse offen geputscht werden, ein Abgleiten in die Diktatur unter dem Deckmantel des Grundgesetzes soll ausgeschlossen sein.

In der Theorie muß es freilich offen bleiben, wie sich ein Regelwerk, das als Antwort auf vergangene Krisen aufgesetzt wurde, in einer neuen Krise bewähren wird. Vor allem, wenn die Krise anders, unvorhergesehen sein wird. Aber wird sie das? Ist sie das?

Meine Kritik

Das Buch ist eine Streitschrift, also zuspitzend, ja tendenziös, jedenfalls kampfeslustig. Man darf also keine ausgewogene Darstellung erwarten. Ein Blick etwa in „Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie“ von Heinrich August Winkler zeigt Gesamtzusammenhänge, die Brentano naheliegenderweise ausspart.

Marxismus und Sowjetkommunismus – für Unverbesserliche noch nicht einmal letzterer – haben sich in den folgenden Jahrzehnten diskreditiert. Brentano immerhin ging zu seiner Schrift später auf Distanz. Inwieweit Analysemodelle, die angesichts englischer Wirtschaftsverhältnisse Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden, im 21. Jahrhundert noch Gültigkeit haben, sollte zumindest kritisch hinterfragt werden.

Zutreffend ist in jedem Fall der moralische Vorwurf, den Brentano erhebt. Ihn zu entkräften, war der sozialliberale Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa angetreten. Ist er der „richtige“ Endzustand der Geschichte, zu dem es zurückzukehren gilt, oder ist er, von heute aus betrachtet, nur eine Episode gewesen? Hat eine neue Epoche der Barbarei schon wieder begonnen?

Der Vorzug von Brentano Buch liegt unbestreitbar darin, zum Nachdenken anzuregen. Die Unmittelbarkeit der präsentierten Quellen ist spürbar, auch wenn sie nicht von Quellenkritik enthebt.

 

Das Buch hat mir der Eichborn-Verlag als Rezensionsexemplar zugesandt, wofür ich an dieser Stelle danken möchte.

Eine Besprechung findet sich auf dem Blog Kaffeehaussitzer.

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Eine Antwort zu Beginn der Barbarei in Deutschland

  1. Alexander Döll schreibt:

    „Wie gut altern tagesaktuelle Texte?“ Leider nicht allzu gut, wie man an diesem Beispiel sieht. Von Brentano bietet eine falsche Analyse des Problems (die Republik habe in wirtschaftlicher Hinsicht nichts gebracht) und er sehnt sich nach dem falschen Ausweg (die bolschewistische Revolution). So etwas passiert, wenn man nicht tief genug bohrt und sich im tagesaktuellen Dauerkampf verausgabt.

    Die Weimarer Republik hätte sehr gute Chancen gehabt, auch wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Und in politischer Hinsicht war sie bei allen Mängeln ohnehin eine Verbesserung gegenüber den Verhältnissen des Kaiserreiches. Leider hat die damalige Linke eifrig mitgeholfen, Hitler die Bahn freizuräumen, indem sie die Legitimität der Republik eifrig zu untergraben suchte. Geradezu tragisch war, dass sie 1925 mit Thälmann einen eigenen Kandidaten für das Amt des Reichspräsidenten aufstellte, sodass sich Hindenburg gegen Marx durchsetzte. Eine tragische Fehlentscheidung, denn Hindenburg hat ja Hitler aus freien Stücken zum Reichskanzler ernannt.

    Versöhnlich stimmt, dass sich von Brentano von seiner Schrift später distanziert hat.

    Wie ich finde, eine sehr schöne Besprechung, viele Grüße Alexander Döll

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