Sasha Filipenko, Rote Kreuze, 2017, dt. 2020 (aus dem Russischen von Ruth Altenhofer) 281 Seiten

Sasha Filipenko, Rote Kreuze | Foto: nw2020
Zum Autor
Sasha Filipenko (geboren 1984 in Minsk) studierte Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator. ›Rote Kreuze‹ ist der erste seiner fünf Romane, der auf Deutsch erscheint.
Inhalt des Buches
Die erste Zeitebene des Buches spielt im Jahr 2001 im belorussischen Minsk. Hier begegnen sich Tatjana Alexejewna und Alexander, der als neuer Mieter in ein Wohnhaus zieht. Sie ist über neunzig und hat mit Alzheimer zu kämpfen; er ist dreißig und hat vor kurzem seine Frau verloren. Sie erzählen sich gegenseitig ihre Lebensgeschichte, die jeweils Schicksalsschläge enthält. Tatjana war im Jahre 1910 in England zu Welt gekommen, wo ihre Eltern lebten: ein russischer Geschäftsmann mit weitläufigen Verbindungen und eine Tänzerin der Ballets Russes, die im Wochenbett verstarb. Ihr Vater kehrte 1919 mit seiner Tochter und zwei Nannys nach Moskau zurück und bot den Bolschewiken seine Dienste an.
Jahre später wird die polyglotte Tatjana Sekretärin im sowjetischen Außenministerium, heiratet und wird Mutter. Schließlich greift das Deutsche Reich die Sowjetunion an. War es schon während der dreißiger Jahre schwer, den Säuberungswellen zu entkommen, so stieg ihre Sorge weiter an, als sie erfuhr, daß ihr Mann als Kriegsgefangener in Rumänien festgehalten wurde. Offiziell galt er damit als Deserteur, weswegen sie seinen Namen von einer Liste des Roten Kreuzes tilgte.
Doch nach Kriegsende fingen ihre Schwierigkeiten erst richtig an.
Zum Stil
Das Buch stellt eine gut geschriebene Abrechnung mit der Sowjetnostalgie dar, die in Rußland und Belorus besonders verbreitet ist und von den Machthabern beider Länder gezielt gefördert wird. Die Schilderung ist kurz, ohne an Eindringlichkeit einzubüßen. Sowohl die Paranoia der großen Säuberungen vor dem Krieg als auch die Maßnahmen während des Krieges werden plastisch geschildert und durch bürokratische Zeugnisse in makabrer Weise illustriert.
Filipenko beschreibt, wie die Erinnerung, die zu vergehen droht, bewahrt werden kann: Die Neunzigjährige, die mit Alzheimer ringt, erzählt den Jungen ihre Geschichte. Auch kämpft sie für den Erhalt von Kurapaty, dem Massengrab bei Minsk, um das es im Jahr 2001 heftige Konflikte gab. Auf der Suche nach Erklärungen macht sich auch Alexander schließlich auf, um etwas in Erfahrung zu bringen.
Trotziger Humor und Durchhaltevermögen, Grausamkeit und Entbehrungen, Schicksalsschläge und Vergeblichkeit – all das schildert der Roman und wird dabei weder voyeuristisch oder buchhalterisch. Tatjana Alexejewna bewahrt sich ihre Würde.
„Was in den Lagern geschehen ist, übersteigt den rechtlichen Begriff des Verbrechens dermaßen, […] Das Lager ist schlicht der Ort, an dem sich der höchste Grad der conditio inhumana verwirklich hat, die es auf Erden je gegeben hat.“ (Giorgio Agamben, Homo sacer, dt. 2002, S. 175) Agamben vermeidet es freilich tunlichst, in seinem Buch über Stalin und das Gulag zu sprechen.
Mein Fazit
Die Verschränkung zweier gebrochener Biographien erlaubt einen frischen Zugriff auf ein schwieriges Thema, das in verschiedenen Gesprächssituationen behandelt und eindringlich vermittelt wird. Das schöne Land am Rande Europas gerät auf diese Weise zu Recht in den Fokus der Aufmerksamkeit.