Worauf sind menschliche Gesellschaften gegründet und warum halten sie zusammen? Diese Fragen beantwortet das Buch von Michael Pauen, Macht und soziale Intelligenz. Warum moderne Gesellschaften zu scheitern drohen, 2019, 289 Seiten plus 27 Seiten Apparat.

Michael Pauen, Macht und soziale Intelligenz | Foto nw2019
Der Autor ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Buch ist jedoch kein philosophisches Werk, sondern verbindet Erkenntnisse der Sozialpsychologie mit denen der Verhaltenstheorie und analysiert auf dieser Basis historische Fallstudien zu gesellschaftlich-staatlichen Wendepunkten und Krisensituationen. Die Ausgangsthesen lauten:
Machtstrukturen basieren nicht primär auf Gewalt, sondern auf sozialer Intelligenz. Und sie dienen dazu, das Verhalten der Gruppenmitglieder zu koordinieren, Konflikte zu vermeiden und Kooperationen zu ermöglichen. (S. 10)
Menschliche Gesellschaften existieren nicht im luftleeren Raum; ihre Entwicklung wird von einer Vielzahl äußerer Bedingungen geprägt. Besondere Bedeutung haben dabei zwei Faktoren: Zum einen haben äußere Konflikte einen wichtigen Einfluss auf Gruppenstrukturen. Unter äußerem Druck rucken Gruppen Zusammen, begraben interne Konflikte und unterstützen schwächere Mitglieder. […] Ökonomische Ungleichheit entsteht [durch die Seßhaftwerdung sowie die damit verbundene Umstellung auf Ackerbau und Viehzucht], und die lässt sich leicht in politische Ungleichheit umsetzen: Wer mehr besitzt, vergrößert aus seinen politischen Einfluss. (S. 12)
Der Autor belegt diese These empirisch-historisch und geht anschließend im einzelnen der Frage nach, wieso die Krisen der Gegenwart den Rechtspopulisten in die Hände spielen, und was man dagegen tun kann.
Neu sind also nicht die Einsichten und Ziele, die in der Nachkriegszeit umgesetzt werden, neu ist vielmehr, dass seit langem bekannte Einsichten und Programme plötzlich mehrheitsfähig werden. Und zwar in vielen Staaten innerhalb eines sehr kleinen Zeitfensters. (S. 160)
Doch dann kollabiert die Sowjetunion – Wegfall des äußeren Drucks – und unter Thatcher und Reagan wird nach Lesart des Autors der oben erwähnte Nachkriegskonsens gekündigt, Solidarität endet und Ungleichheit nimmt stark zu. Außerdem nehmen Individualisierung und Freiheit zu, wovon gesellschaftliche Minderheiten und marginalisierte Gruppen profitieren. Negative Kettenreaktionen (S. 186) sind zu beobachten. Hierauf bilden rechtspopulistische Bewegungen dann ihrerseits eine Reaktion, die die sich herausbildende materielle Unsicherheit und – für manche – geistige Ungewißheit oder Orientierungslosigkeit „dem System“ generell anlasten. Nur ein Zurückschneiden demokratischer und liberaler „Auswüchse“ und ein über dem Gesetz stehender Volkswille würden zu Sicherheit und Geborgenheit führen.
Beispiele aus Ungarn, Polen und den USA zeigen, wie entsprechende Regierungen dieses Programm dann auch machtvoll – und mit dem Rückenwind des Volkswillens ausgestattet – umsetzen.
Konfrontation und harte Gegenargumente bieten […] keinen gangbaren Weg, Einfluss auf andere auszuüben. Die einzige halbwegs erfolgversprechende Strategie […] besteht in ausgewogenen, nicht konfrontativen Argumenten, in denen das Für und Wider zur Sprache kommt. (S. 210)
Zu den weiteren Lösungsvorschlägen zählen neben dem Ausbau sozialstaatlicher Programme auch der Appell an linksliberale Schichten, abweichende Meinungen zu ertragen und die sie Äußernden nicht apodiktisch aus dem Diskurs ausschließen zu wollen: auch vernünftige Menschen können andere Überzeugungen haben, als man selbst (S. 275). Paulen hinterfragt soziale Selbstabschottung und den damit einhergehenden Hochmut. Er präsentiert die belgische Stadt Mechelen als positives Beispiel für Veränderungen (S. 279ff.).
Das Ganz ist gut lesbar geschrieben, mitunter etwas zu didaktisch mit Wiederholungen und Zusammenfassungen und „Wir hatten gesehen, dass …“, aber insgesamt überzeugend. Die Quellenbasis ist recht breit, wenngleich dann einzelne Abschnitte jeweils sehr stark an einem oder zwei Autoren orientiert sind.
Das Buch schließt mit dem wichtigen Appell: „Wir sollten unsere Chance nutzen.“
Sehr interessant!
Aber falls es nicht mehr als ein Mechelen gibt, liegt es in Belgien.
Danke für den Hinweis, habe es gerade verbessert.