
Madame Nielsen, Der endlose Sommer | Foto: nw2018
Madame Nielsen, Der endlose Sommer. Ein Requiem, 2014 (dt. 2018, aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer), Köln: Kiepenheuer & Witsch, 190 Seiten.
Der Text
Aus dem kleinformatigen, apart gemachten Buch strömt mir eine Menge an Text entgegen, in langen Sätzen, die um zahlreiche Kommata mäandern und in denen sehr viele Adjektive schwimmen; ein handlungsarmer, aber keineswegs ereignisloser Mahlstrom der Gedanken. Leben, Familie, Jugend, Erwachsenwerden, Träume, Scheitern – all das kommt vor und passiert, doch wie hinter einem Vorhang, wie unter Watte, denn der endlose Sommer lähmt. Auch das Aufbegehren gegen den dänischen Wohlfahrtsstaat, der noch dieses Aufbegehren einhegt und unterstützt, ist gedämpft, vielleicht nicht dort, wo es passiert, aber doch im unbestimmten Ort des Romans, wo Menschen mit- oder vielmehr nebeneinander leben und warten, daß die Zeit vergeht.
Die Autorin
Das Buch hat autobiographische Züge, die sich einem erschließen, wenn man den Namen der Autorin in eine Suchmaschine eingibt. Bei der ersten Lektüre halten sich Ratlosigkeit und Neugier die Waage, so daß ich das Buch insgesamt doch nicht so rasch wie erwartet durchgelesen habe. Für einen Zufallskauf – ich hatte für eine Reise drei Bücher bereitgelegt, aber keines davon eingepackt, weil ich plötzlich in Eile geriet, um meinen Zug zu erreichen –, der vom Umfang (nicht zu dick), der Aufmachung (ansprechend) und dem Titel (paßt zum Sommer 2018) bestimmt wurde, bedeutete »Der endlose Sommer« eine unerwartet intensive Leseerfahrung, die sich eben nicht als kurzweilige Nachttisch- und Frühstückslektüre eignete.
Ich brauchte Lesepausen, um mich zu vergewissern, ob ich in dem Buch vorangekommen war, ob es dunkel oder hell war, ob ich wach war oder tagträumte.
Und hier, in diesem schlaflosen Dunkel, verschwimmen die Zeiten und Ereignisse ineinander, er ist gleichzeitig der scheue, schmale Junge, der sich durch das schlafende Haus vortastet, und die alte Frau, die Jahrzehnte später kraft ihrer Erzählung den »weißen Hof« als mythischen Ort aus all dem erschafft, was ein für alle Mal verloren ist, ihn in der Sprache mit all ihren sieben Sinnen aus dem Dunkel der Erinnerung hervortastet […] (S. 68)
Gibt es überhaupt eine Wirklichkeit und wer definiert sie?
Ein Feld ist ein Feld ist ein Feld, die Verzauberung löst sich und die alte Welt beginnt, doch noch soll die alte Welt nicht beginnen, wir bleiben im »endlosen Sommer«, der gleich dem Paradies der Ort ist, der nie war und an den man nie zurückkehren kann, außer in der Erzählung, und jeder Tag ist der erste, letzte und immerselbe […] (S. 77)
Dänemark
Seitenhiebe auf das typisch dänische Leben und die typischen dänischen Frauen durchziehen das Buch und markieren die Außergewöhnlichkeit der Existenz der Hauptfigur, der Mutter, die im Zentrum all der Worte steht, um die die Handlung kreist und die auch selbst die Handelnde ist. Sie ist eigenständig und furchtlos, was sie sowohl im traditionellen Portugal als auch im egalitären Dänemark exotisch wirken läßt.
Nicht der Biss in den Apfel ist der Sündenfall. Sondern die Vorstellung von einem Leben nach diesem einen Jetzt. (S. 146)
Nicht alle Figuren dieses Panoptikums sind alt genug für Selbständigkeit und Versuche. Die es sind, und die solche Versuche unternehmen, machen ganz unterschiedliche Erfahrungen auf dem Stück Weg, auf dem die Erzählung sie begleitet. Das Leben mit seinen Höhen und Tiefen, trostlos, erbarmungslos – jedes Glück, ob klein oder groß, nur vorübergehend.
Erstaunlich fand ich, wieviele bürgerliche Topoi der Text enthält, und wie oft auf die Bibel Bezug genommen wird. Kann das geschriebene Wort die Welt bannen, die Gedanken, die Schrecken, die Hoffnungslosigkeit? Wann ist der Mensch frei? Ein schmales Buch, und viele Fragen, die nach der Lektüre bleiben. Ja, das ist insgesamt zu viel, de trop, auch gewollt – aber so ist das, wenn man ein Panoptikum betritt.
Constanze Matthes hat das Buch auf ihrem Blog Zeichen & Zeiten schon im April 2018 sehr einfühlsam besprochen.
Ein Buch, für das man bereit und offen sein muss. Es liest sich nicht so schnell, man braucht Zeit und Aufmerksamkeit. Doch dann wird man belohnt. Vielen Dank für die freundliche Erwähnung und den Link. Viele Grüße
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