Delphine de Vigan, Nach einer wahren Geschichte, 2015, dt. 2016 (aus dem Französischen von Doris Heinemann), 348 Seiten.

Delphine de Vigan, Nach einer wahren Geschichte | Foto: nw2018
Nehmen wir starke Ich-Erzähler, sagen wir Karl May und Benjamin Stuckrad-Barre, so steht bei den Lesern sofort die Frage im Raum, wie authentisch der verfaßte Text ist. May, ausgestattet mit Lexikon, Atlas und Wörterbuch sowie einer unerschöpflichen Phantasie beglaubigt seine Reiseerzählungen durch die Ich-Perspektive. Stuckrad-Barre, so hört man, verhehlt kein noch so persönliches Detail seines Lebens und befriedigt voyeuristische Interessen im Dutzend.
Was ist wahr? Muß ein fiktionaler Text, ein Roman etwa, wahr sein – oder zumindest auf Wahrheit, auf Selbsterlebtem fußen? Kein »Zauberberg« ohne Davosaufenthalt Thomas Manns, das steht fest; Fontane nahm reale Schicksale als Anlaß zu Gesellschaftsromanen (etwa »Effie Briest«). Die Liste ließe sich fortsetzen.
De Vigans Roman »Nach einer wahren Geschichte« ist eine Antwort auf die Fragen, ob man noch einen fiktionalen Text schreiben könne, und was eine „reine“ Fiktion sei. Dazu legt sie eine starke Geschichte über einen schleichenden Kontrollverlust vor, die ebenso nüchtern wie eindringlich erzählt wird. Minutiös und detailreich berichtet Delphine, die Ich-Erzählerin, aus ihrem Leben, von der ersten Begegnung mit L. und von dem, was danach passierte. Wie sich beglückende Nähe in Bedrückung verwandelte, wie das eigene Leben fremdgesteuert wurde.
Man hält einen handlungsreichen, spannenden und beklemmenden Roman in den Händen, exzellent geschrieben. Bezwingende Schilderungen von Personen und von Stimmungen, sanfte Schattierungen atmosphärischer Wandlungen, Zögern, Unsicherheit, Panik – all dies bietet der Text, der gleichzeitig von Autorschaft und Identität, von Authentizität und Lüge, von Fakten und Wahn handelt.
Die Doppelbödigkeit, das In-der-Schwebe-halten gelingen de Vigan sehr gut – wie auch die Übersetzung das französische Flair hervorragend zur Geltung bringt. Betrachtet man den Roman als künstlerische Leistung, so muß man die Leistung der Autorin bewundern, Begreift man ihn als Schilderung einer wahren Begebenheit, so bleibt man verstört zurück und hofft, von derartigen Erlebnissen und Absonderlichkeiten verschont zu bleiben. Die Fiktion als Leser voyeuristisch begleiten kann ich mir zumuten, wüßte ich, daß dies reale Geschehnisse wären, wäre ich während und nach der Lektüre beschämt und bedrückt zugleich und wünschte mir, dergleichen nicht gelesen zu haben. Aus diesem Grund kommt mir ja »Panikherz« nicht ins Haus.
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