Johann Chapoutot, Der Nationalsozialismus und die Antike, 2008, dt. 2014. Übersetzung aus dem Französischen von Walther Fekl. Philipp von Zabern / WBG: Darmstadt, 406 Seiten plus 93 Seiten Apparat.
Die Studie beruht auf der an der Sorbonne vorgelegten Dissertation des Autors und erschien im Jahr 2008 unter dem Titel »Le national-socialisme et l’Antiquité«.

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Die Erfindung der eigenen Vergangenheit
Gegenstand der Untersuchung ist der unhaltbare Versuch der NS-Ideologen, den Ariern eine glanzvolle, ihre „rassische Überlegenheit“ begründende Vergangenheit herbeizuphantasieren. Hanebüchene Umdichtungen werden vorgenommen, eine Disziplin gibt ihre Wissenschaftlichkeit auf und stellt sich völlig in den Dienst der Ideologie.
Die Geschichte machte sich zur Dienerin des Mythos, eines Legendendiskurses. Der Nationalsozialismus gebar eine Mythopoiesis, er erdichtete sich eine Mythologie, in der die Vergangenheit der Gruppe, der Rasse, ganz nach Maßgabe seiner ideologischen Postulate Gestalt annahm.
Diese Postulate waren so elementarer Natur und verstanden sich als so apodiktisch, dass die Geschichte neu geschrieben, ja umgestülpt wurde: Eine gegenwärtige Ideologie schickte sich an, die Vergangenheit einer Nation (das Mittelalter) neu zuzuschneiden, um dann die Vergangenheit einer Rasse (Altertum und Vorgeschichte) neu zu modellieren und damit ihren unmittelbaren politischen Bedürfnissen zu entsprechen. (S. 58f.)
Freilich können die Nazis dabei an zweierlei anknüpfen: Zunächst einmal ist das beschriebene Vorgehen kein neues – im Bemühen, die „verspätete Nation“ irgendwo festzumachen, ist die Historiographie wie die politische Diskussion das ganze 19. Jahrhundert bemüht, Traditionslinien von Tacitus her zu konstruieren. Ihre Radikalität ist dabei aber von neuer Qualität, bedingt durch die rassenpolitische Vorgabe der Ideologie bleibt es nicht bei Hinzudichtungen, sondern man nimmt eine komplette Umschreibung der historischen Entwicklung vor. Aus der Formel „Ex oriente lux“ wird durch bloße Behauptung „Ex septentrione lux“, dem nordischen Ursprung aller bedeutender Kulturschöpfung durch die Arier. Zweitens gibt es spätestens seit der Jahrhundertwende ein breites Bedürfnis im verunsicherten Bürgertum nach wahrer, zeitloser und überdauernder Kunst (hierzu Wolfgang Martynkewicz, Salon Deutschland. Geist und Macht 1900-1945, 2009, S. 462ff.).
Man phantasiert sich (Chapoutot: hermeneutisches Delirium, S. 70) alle Kulturvölker der Geschichte als ursprünglich von aus Nordeuropa eingewanderten Ariern gebildet, sämtliche Leistungen werden während deren Dominanz erbracht. Oft kommt es dann aber zur „Vermischung“ mit und Ablösung durch „minderwertige Rassen und Völkerschaften“, die jeweils den Niedergang bedeuten. Die Deutschen der 1930er Jahre als die Arier der Gegenwart sind also einerseits die legitimen Erben dieser Kulturleistungen und gleichzeitig ist jede spätere Eroberung „eigentlich“ eine Heimkehr.
Diese nordische Theorie wird konsequent in den Schulen gelehrt und im Rahmen beruflicher Fortbildung beziehungsweise Schulung – etwa von Polizisten oder SS-Angehörigen – vermittelt.

Aus: Peter Longerich, Goebbels. Biographie, 2010, S. 310 Foto: nw2016
Das Buch Chapoutots zeichnet unter Heranziehung zahlreicher zeitgenössischer Quellen nicht nur diesen Diskurs ausführlich nach, sondern widmet sich auch den praktischen Konsequenzen dieser Völkerverwandschaft im Dritten Reich: Nachahmung der Antike – durch die Olympiade 1936, durch Körperkult, Architektur und Sparta-Verherrlichung – sowie Aufladung des „Rassenkampfs“ in Vernichtungskrieg und Holocaust.
Die materialgesättigte Studie überzeugt durch eine konsequente Durchführung und logische Argumentation. Die klare Struktur und eine gute Lesbarkeit sprechen klar für das Buch. Das man beim Lesen trotzdem häufig den Kopf schüttelt, liegt an der Absurdität und Dreistigkeit, mit der die Nazis versuchen, Wirklichkeit und Ideologie in Übereinstimmung zu bringen.
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