
Berliner Goldhut (ca. 1000-800 v. Chr.), Fundort vermutlich Süddeutschland Foto: nw2016
Ein gutes Buch bringt den Leser zum Weiterdenken. So erging es mir kürzlich mit der interessanten Studie von Johann Chapoutot, „Der Nationalsozialismus und die Antike“, wo ich auf eine Kontroverse zwischen Hitler und Himmler aufmerksam wurde. Die Nationalsozialisten waren damit beschäftigt, ein historisches Narrativ zu entwickeln, das die herausragende Bedeutung der Arier durch die gesamte Menschheitsgeschichte belegen und so den aktuellen Herrschaftsanspruch der neuzeitlichen Arier, also der Deutschen, begründen sollte. Daran beteiligten sich nicht nur Propagandisten der Partei wie Alfred Rosenberg, dessen Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit“ (1930) gleichsam die theoretische Summa dieser Bemühungen darstellte, sondern auch die Geschichtswissenschaft (Joseph Vogt, Helmut Berve) und natürlich die sogenannte Rassenkunde (v.a. Hans Friedrich Karl Günther). Diese Inhalte wurden an den Schulen unterrichtet und in Schulungswerken für Partei, Polizei und Reichswehr vermittelt. Hiernach wären die Arier in Schüben immer wieder aus ihrem nordischen Kernland nach Osten, Westen und Süden gewandert, hätten dort unter günstigen klimatischen Bedingungen Hochkulturen errichtet, die sich dann aber im Laufe der Jahrhunderte mit „minderwertigen Rassen“ vermischt und deshalb wieder herabgesunken seien. Aus „Ex oriente lux“ wurde so das ideologisch dringend notwendige „Ex septentrione lux“.
Himmler, der Reichsführer SS, war stolz auf das germanische Erbe und unternahm große wissenschaftliche und propagandistische Anstrengungen, dieses in gebührendem Licht erscheinen zu lassen. Demgegenüber verachtete Hitler die Germanen ob ihrer kulturellen Rückständigkeit im Vergleich mit den Griechen und Römern. Chapoutots Buch belegt dies durch zahlreiche Zitate (die beiden nachstehenden stammen aus dem Jahre 1942 und finden sich im Buch auf S. 82):
Wer weiß, ob der Neandertaler nicht ein Affe war. […] Wenn man uns nach unseren Vorfahren fragt, müssen wir immer auf die Griechen verweisen.
Sie [die Germanen] waren auf keiner höheren Kulturstufe wie heute die ‚Maori‘ (Neuseeländer Negerstamm).
Gründe genug, wieder einmal das Neue Museum in Berlin zu besuchen, in dem unter anderem das Museum für Vor- und Frühgeschichte und Teile der Antikensammlung untergebracht sind.

Treppenhaus Foto: nw2016

Treppenhaus Foto: nw2016

Treppenhaus Foto: nw2016
Das vom Architekten Friedrich August Stüler von 1843 bis 1845 erbaute Neue Museum war mit den technischen Mitteln der Industriellen Revolution errichtet worden und brachte mehrere tausend Jahre Kunst- und Kulturgeschichte unter einem Dach zusammen. Am 3. Februar 1945, drei Monate vor dem Ende des von den Nationalsozialisten entfesselten Krieges, wurde das Haus von Bomben getroffen und brannte aus. Es blieb als Ruine stehen. Nach mehrjährigem Wiederaufbau und einer interessanten Mischung aus Restaurierung und Belassung der Kriegsspuren (Architekt: David Chipperfield) wurde es im Jahr 2009 wiedereröffnet.
Zu seinen Hauptattraktionen zählt natürlich das Ägyptische Museum mit der besonders exponiert gezeigten Büste von Nofretete, aber auch dem im Beitragsbild gezeigten Berliner Goldhut gebührt Aufmerksamkeit.

Goldhüte (Simulation) vom Typus Schifferstadt Foto: nw2016
Die Goldhüte sind bronzezeitliche Artefakte, die als Kultobjekte dienten und Herrschaft(swissen) symbolisierten. Sie stehen im Neuen Museum für einen der vielen entwicklungsgeschichtlichen Höhepunkte von Steinzeit über Bronzezeit zur Eisenzeit.
Der von Sigmar von Schnürbein herausgegebene »Atlas der Vorgeschichte. Europa von den ersten Menschen bis Christi Geburt«, 3. Aufl. 2014, enthält den heutigen Forschungsstand zum Thema:
Auch wenn wir Europäer unseren Kontinent als einen zentralen Teil der Welt empfinden, so handelt es sich aus der Forschungsperspektive zum frühen Menschen eher um eine Sackgasse: Europa wird weitgehend von Meeren begrenzt, und der Riegel der Hochgebirge von den Pyrenäen über die Alpen bis zu den Karpaten führt zu einer Nord-Süd-Teilung mit sehr unterschiedlichen Klimabedingungen. Die nördlichen Gebiete dürfen dabei global als eine Ungunstregion betrachtet werden, die ohne kulturell fortgeschrittene Grundfertigkeiten – wie etwa die Beherrschung des Feuers – kaum vom Menschen genutzt werden konnte. (S. 13)
Heute geht man davon aus, daß sich aus dem Homo erectus einerseits der Neandertaler entwickelte, der dem Klima in Mittel und Nordeuropa gewachsen war, und später der Homo sapiens, der sich dann von Afrika aus nach und nach über die gesamte Welt verbreitete. Europa wurde dabei hauptsächlich von Südosten her besiedelt.

Quelle: Die Zeit vom 15.9.2016 Foto: nw2016
Nach einer erstaunlichen Blütezeit am Ende der frühen Bronzezeit folgt die mittlere Bronzezeit (1600/1550-1300 v. Chr.), eine eher beschauliche Periode mit weniger weiträumigen kulturellen Verflechtungen. Auf dem griechischen Festland bildet sich nun das System der Palastherrschaft mit seinen engeren Bindungen an die Welt der vorderorientalischen Hochkulturen heraus – eine Neuigkeit für Europa, das jetzt zum ersten Male Berührungen mit der Schrift bekommt. Nordeuropa findet in seiner Periode II in der Bronzezeit durch erstaunlich eigenständige Kulturleistungen Anschluss an das Niveau weiter südlich gelegener Gebiete. (Atlas der Vorgeschichte, S. 113)
Dementsprechend ist für die Spätbronzezeit eine Vergleichbarkeit des kulturellen Niveaus über alle Teilräume Europas hinweg zu beobachten. In der anschließenden Eisenzeit (800 v. Chr. – Christi Geburt) profitierte Europa erneut von Vorderasien und übernahm die neue Technik sukzessiv in Schüben durch einen engen und kontinuierlichen Austausch zwischen den verschiedenen Siedlungsgebieten.
Die nordische Theorie ist stets Fiktion gewesen, aber auch der spezifisch deutsche Blick des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf die griechisch-römische Antike hat zu einer – heute differenzierter ausfallenden – Idealisierung einer Epoche geführt, neben der andere Kulturleistungen zu Unrecht verblassen mußten.
Wenn man denkt, dass die Ariertheorie tot ist, muss man nur mal in den Iran fahren und sich dort als Deutscher outen. Früher oder später trifft man auf stolze Iraner, die einem erklären, dass „wir doch beide Arier sind“. Angeblich kommt sogar der Name „Iran“ aus dem gleichen Wortstamm wie „Arier“.
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