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Wolfgang Koeppens Roman „Das Treibhaus“ (1953) bildet den Mittelteil der „Trilogie des Scheiterns“, zu der noch „Tauben im Gras“ (1951) und „Der Tod in Rom“ (1954) gehören.
Diese Bücher stießen in der damaligen Bundesrepublik und ihrer Literaturkritik auf wenig Gegenliebe, wie Marcel Reich-Ranicki in der ZEIT vom 8. September 1961 schrieb:
Die nächsten Bücher Koeppens – die Romane Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom – stammen aus den Jahren 1951 bis 1954. In einer Zeit, in der die meisten deutschen Nachkriegsautoren noch im Banne Hemingways standen, griff Koeppen zu anderen angelsächsischen Vorbildern: von Joyce bis Faulkner. In einer Zeit, in der noch das Kriegserlebnis die Thematik beherrschte – Bölls Wanderer, kommst du nach Spa… war 1950, sein Wo warst du, Adam? 1951, Anderschs Kirschen der Freiheit 1952 erschienen – attackierte Koeppen in den Tauben im Gras die bundesrepublikanische Welt, in deren Leben er bereits – man schrieb das Jahr 1951 – jene Kennzeichen entdeckte, die erst mehrere Jahre später deutlich sichtbar werden sollten.
Die Kritik reagierte auf dieses Buch zwar mit Anerkennung, aber doch mit Befremden – alles war in den Tauben im Gras ungewöhnlich: die Technik, die sprachliche Kraft und nicht zuletzt die Aggressivität der gesellschaftskritischen Anklage. Charakteristisch ist die Rezension des Monats, der Koeppen vorwirft, er habe „die Düsternis unserer Zeit zum ausschließlichen Ausgangspunkt gemacht“. Und: „Weil dieses Buch sich fast ausschließlich im Morbiden, im Sumpfe tummelt… darum auch mangelt es ihm an dem Atem, an der Überzeugungskraft.“
Vielleicht kann man erst aus der heutigen Perspektive die beklemmende Hellsicht dieses Romanes ermessen, in dem manche Abschnitte 1961 und nicht 1951 geschrieben zu sein scheinen. Und vielleicht vermochte Koeppen die Zeitatmosphäre deswegen so scharf einzufangen, weil er kühn genug war, eben „die Düsternis unserer Zeit zum ausschließlichen Ausgangspunkt“ zu machen. Immerhin war den Tauben im Gras – zum Unterschiede von den weiteren Koeppen-Romanen – ein gewisser Erfolg beschieden. Die Welt schrieb (allerdings erst 1953): „Wenn es hierzulande mit rechten Dingen zuginge, würde dieser Roman wie ein Fanfarenstoß wirken.“
Auch Das Treibhaus, in dessen Mittelpunkt ein Mann steht, der 1933 emigrierte, 1945 zurückkehrte, 1949 in den Bundestag gewählt wurde und 1952 Selbstmord beging, wirkte keineswegs wie ein Fanfarenstoß. Die meisten Rezensenten schrieben – insofern sie sich überhaupt äußerten – kühl oder geradezu feindlich. Da es aber in der Bundesrepublik, wie gesagt, keine Kritik, sondern nur einzelne Kritiker gibt, war die einzige enthusiastische Besprechung dieses ungewöhnlich heftigen Bonn-Romans just in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen, in der Karl Korn schrieb: „Die Radikalität Koeppens scheint mir aus einem tiefen Leiden an der deutschen Gegenwart zu kommen… Das Treibhaus ist eine Klasse Literatur, wie sie nur selten erreicht wird.“
Wurde die Bedeutung des Treibhauses – von Korns Besprechung abgesehen – zumindest unterschätzt, so scheint der Tod in Rom gänzlich verkannt worden zu sein. Ein Teil der Presse ignorierte das Buch, der Rest sah in ihm lediglich einen gegen Faschismus, Neofaschismus und die Wirtschaftswunderwelt gerichteten politischen Zeitroman, dessen Aggressivität von manchen Rezensenten als höchst überflüssig empfunden wurde. In der ZEIT beispielsweise wurde der Tod in Rom als ein „Zerrspiegel“ der deutschen Wirklichkeit entschieden abgelehnt.
Wie beurteile ich den Roman heute (zuletzt las ich ihn im Jahr 2004)? Damals erschien er in der Bibliothek der Süddeutschen Zeitung als einer von „50 große[n] Romane[n] des 20. Jahrhunderts“.
Köppen beschreibt eine Ruhe- und Heimatlosigkeit im Kampf gegen das Weiterwirken der alten Kräfte und Haltungen. Die Hauptfigur zieht – so sieht sie es selbst – sinnloses Sich-Vorkämpfen als sozialdemokratischer Abgeordneter der Liebe vor und zahlt dafür mit dem teilweisen Verlust der Ehefrau:
Die Wanowski befriedigte nicht nur, sie kuppelte auch und warb Jüngerinnen zum unheiligen Vestalinnendienst. … Was die Wanowski Elke bot, war eine unwiderstehliche Bestechung, war Zweisamkeit und Bier. (S. 18)
Köppen läßt seine Hauptfigur die alten Nazis sehen und legt ihm die Furcht vor einer Erneuerung in den Mund. Die Westbindung des Kanzlers als neuerlicher Schritt zum Kriege? (S. 20f.) Die Verbindung mit dem Nibelungenmythos (S. 21f.), die am Alten haftende Treue, raunt von einer Gefahr, die es aus der Rückschau so nicht gab. Es gab – schlimm genug! – die Vertuschung, gab das Weiterwirken und -gelten von Unrechtsvorschriften, die schleppenden und ausbleibenden Entschädigungen – aber es gab keinen neuen Krieg, keine rassistische Diskriminierung und keinen Holocaust. Die linke Aversion jener Zeit gegen die junge Bundesrepublik, das Gefühl, doppelt um den Sieg über den Hitlerfaschismus betrogen worden zu sein, sie verstellte die Sicht auf die Erfolgsgeschichte des neuen Staates. Viele konnten ihren Frieden mit ihm ja erst – und manche ausschließlich – in der kurzen Ära Willy Brandts machen. Koeppens Scharfsichtigkeit geronn in vielen anderen Fällen zur jahrzehntelang anhaltenden Wahrnehmungsverzerrung bei gleichzeitig kommodem Eingerichtetsein im Literaturbetrieb.
Beziehungsthemen spielen zwar eine Rolle, aber sie dominieren nicht:
Die Ehe komplizierte alles. (S. 14)
Es ist ein Zeitroman, mit verflochtenen Erzählsträngen, Reflexionen, assoziativen Passagen – ein ununterbrochener Wort- und Gedankenstrom. Bonn, die Menschen, die Beamten, Journalisten, Politiker, ihre Beziehungen zueinander, alles wird zu einem großen Panorama gefügt.
Dies ist, wie Ralf Schnell in Metzlers Deutscher Literaturgeschichte, 6. Aufl. 2001, S. 616, schreibt, ein Erzählkunstwerk mit avantgardistischen Mitteln, dessen literarisches Verfahren von der zeitgenössischen Literaturkritik wegen der reflexhaften Auseinandersetzung mit dem zeitkritischen Inhalt des Buches nicht angemessen gewürdigt wurde. Wegen der literarischen Qualität werde das Werk Koeppens aber jenseits der inhaltlichen Zeitgebundenheit Bestand haben.
Dem ist zuzustimmen: Wunderbar etwa die kurze Beschreibung des Hauses des amerikanischen Hohen Kommissars (S. 88f.) und der Menschen darin (S. 89ff.). Eindringlich die Passage über die Öde des Lebens (S. 94), bitter jene über das Kleinbürgerdasein (S. 96).
Der Textstrom bildet Strudel, teilt sich an aufragenden Steinen, schöpft Atem in einer größeren Ausbuchtung und sprudelt eine Engstelle hindurch – mit der Montage verschiedener Stil-, Erzähl- und Reflexionsebenen wird der eigentlich recht handlungsarme Text zu einer bewegten Angelegenheit.
… und dann war es Onanie die schwächte und zufrieden legte sich der Epigone ins breite Ehebett der gesetzlichen Ordnung den Kalender mit den fruchtbaren und unfruchtbaren Tagen der Frau auf dem Nachttisch neben dem Gummischutz und der Enzyklika aus Rom. (S. 100)
Zukunftspläne, Hoffnungslosigkeit, Vergeblichkeit, Unzulänglichkeit der eigenen Mittel – Keetenheuve schaut scharfsichtig hinter die Fassaden, in die eigene und fremde Leere; und bleibt gelähmt zurück. Zynismus, Machtspiele, das Angebot eines Botschafterpostens. Todesahnung, Phantasie, Trotz. Der Damenknirpsschirm von S. 48 kehrt auf S. 106 als Knirpsdamenschirm wieder. Konsum, Scheinaktivitäten der Politik, ewige Nazis, Wochenschau, ohnmächtiger Sozialdemokrat, unverstanden, nicht verstehend, ausgeschlossen, fremd, unbehaust.
Eindrucksvoll läßt Koeppen dieses Gefühl entstehen, sich ausbreiten, vom Text Besitz ergreifen.
Mit einigen Worten werden Menschen charakterisiert, etwa die Besucher der Weinstube (S. 117-119). Vergangenheit – Gegenwart, Exil – Bonn, Ekel überall. Gelegentlich Wagner, öfters Fett, immer Ekel. Ekel. Weltekel, Naziekel, Selbstekel.
Gegensätzliche Weltanschauungen, Lebenslust oder Todesahnung, Freund oder Feind. Koeppen macht die Isoliertheit Keetenheuves deutlich, der sich auf nichts (mehr) einlassen kann, der querständig ist, dessen Leben ein „Entwurf“ ist und bleibt (S. 135). Erdrückend bilanziert in drei – typisch formulierten – Zeilen, als er endlich im Bett liegt:
Keetenheuve furchtsamer Nachtvogel Keetenheuve verzweifelter Nachtkauz Keetenheuve geführter Wanderer durch Gräberavenuen Gesandter in Guatemala Lemuren begleiten ihn (S. 136)
Daß viele Gedanken Keetenheuves um Sexualität und Lust kreisen und im Text explizit werden, machte ihn den zeitgenössischen Lesern sicher nicht sympathischer. Ein Priester kommt in Begleitung eines kleinen Mädchens in die oben erwähnte Weinstube. Beide trinken Wein, das Kind ein Achtel, der Priester ein Viertel:
Das kleine Mädchen war wohl zwölf Jahre alt und hatte rote Söckchen an.
Die Söckchen des kleinen Mädchens hingen rot unter dem Tisch.
[V]ielleicht schlief [der Priester] auf kühlem Linnen ein, und vielleicht träumte er von roten Söckchen.
Im Schatten der Nacht können junge Menschen oder Betrunkene ausbrechen aus dem Trott von Produktion, Konsum und Verwalten. Doch sind sie dabei nicht echt, leben nur eine geborgte Freiheit. Das Wort „Lemuren“ fällt erstaunlich oft.
In Haustoren standen Strichburschen und boten sich an. Vorbei. Am Bahnhof warteten abdeckerreife Totenrosse der Lust auf einen Reiter. Vorbei. (S. 135)
Bösartig-karikierende Darstellung von CDU-Abgeordneten, sämtlich im Geiste des Nazismus erzogen, nun dem anderen Leithammel folgend (S. 140ff.), Unzufriedenheit mit einem Parlament, dessen Mehrheit die Regierung trägt, und das nicht insgesamt in Opposition zur Krone und deren Regierung steht (S. 143), Machtlosigkeit und Eingebundensein der Opposition (S. 144), die Staatsloyalität der SPD (S. 145) – Keetenheuve verzweifelt an diesen Zuständen. Keetenheuve, der utopische Pazifist, für den die Wiederbewaffnung geradewegs zurückführt in die kaum überwundene Zeit. Doch Kanzler und Oppositionsführer waren dafür, der ein sofort, der andere später.
Es war merkwürdig, wie zu allen Zeiten der Geschichte die Ältesten bereit waren, die Jugend dem Moloch zu opfern. (S. 156)
Er wußte, daß es aus war. Er hatte den Kampf verloren. Die Verhältnisse hatten ihn besiegt, nicht die Gegner. Die Gegner hatten ihn kaum beachtet. Die Verhältnisse waren das Unabänderliche. Sie waren die Entwicklung. Sie waren das Verhängnis. (S. 157)
Ein von Vanitasmotiven durchzogener Abend am Rhein mündet in eine wahnhafte Szene (S. 167ff.), aus der der „gänzlich unnütz[e]“ (S. 171) Abgeordnete ausbricht und von einer Rheinbrücke springt.
Der Roman ist ein Buch vor der Zeit; Koeppen spricht Dinge an, die auf breiterer Front erst fünfzehn Jahre später thematisiert werden. Stilistisch modern, abgelöst von einer linearen Erzählperspektive, mußte es damals befremden. Gleichzeitig ist es ein deutsches Buch, wie es deutscher kaum sein könnte: wagnerische Leitmotivtechnik, bildungsgesättigt-faustisch, sich abarbeitend an der Geschichte von Nationalsozialismus und SPD.
Unbedeutender Hinweis: Ich glaube, das Buch erschien in einer Reihe der Süddeutschen Zeitung, nicht der ZEIT-Bibliothek.
Das stimmt natürlich und wird geändert! Danke für den Hinweis.
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