Goethe: Faszination des modernen Individuums

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Foto: nw2015

Bernd Hamacher, Johann Wolfgang von Goethe. Entwürfe eines Lebens, 2010, 241 Seiten plus 14 Seiten Apparat.

Individuum und Literatur, Leben und Werk, Dichtung und Wahrheit – wie modern war Goethe? Welches Bild hatte er von sich, vom Menschen überhaupt und wie setzte er dieses literarisch um? Was sollte Literatur bewirken?

Dieses Absolute wird, wenn nicht mehr in der Religion, so in Natur, Kunst und Liebe gesucht, die jeweils religiös aufgeladen werden. Wenn das Einssein mit der Natur nicht gelingt, die künstlerische Produktivität versiegt und die Liebe zerbricht, wenn also – wie im Falle Werthers – alle drei Instanzen scheitern, so kann die Literatur in die Sinnstiftungslücke treten. Das Buch wird zum Freund, wie es Werthers Herausgeber den Lesern empfiehlt, und oft genug bleibt nur dieser einzige Freund, der den Bezug auf das Absolute ersetzen muss. Nie wurde der Lektüre so viel zugetraut: ein geradezu universales Therapeutikum. (S. 61)

Ausgangspunkt der Überlegungen Hamachers ist eine späte, kurz vor dem Tode getane Äußerung Goethes:

Was bin ich selbst? Was habe ich getan? Ich habe alles, was ich gehört, beobachtet habe, gesammelt, benutzt. Meine Werke sind von Tausenden verschiedenen Individuen genährt, Unwissenden und Weisen, Geistreichen und Dummköpfen. Die Kindheit, das reife Alter, das Greisentum, alle haben mir ihre Gedanken, ihre Fähigkeiten, ihre Seinsart dargeboten, ich habe oft die Ernte gesammelt, die andere gesät hatten. Mein Werk ist das eines Kollektivwesens und trägt den Namen Goethe. (S. 10)

Gibt es also überhaupt ein Individuum und was macht es aus? Hamacher untersucht Goethes Ringen um gelingende Individualität.

Aus dieser Forderung nach der Einheit des Subjekts und seiner Lebensgeschichte samt deren kontinuierlicher oder zumindest sinnvoll nachvollziehbarer Entwicklung leitete nun Goethe ein für seine Zeit durchaus neuartiges Programm der Lebensbeschreibung, der Autobiographie ab. In der Tradition der Bekenntnisliteratur von Augustin bis Rousseau, aus der die moderne Autobiographie hervorgegangen ist, standen Gewissenserforschung und Rechtfertigung des Subjekts im Vordergrund. Nun aber, bei Goethe, ging es um die Bearbeitung des modernen Problems, dass Lebensverläufe diskontinuierlich werden, man sich in anderen Situationen findet, als man noch vor kurzem geglaubt hatte, und seine Zukunft kaum noch längerfristig zu planen vermag[.] (S. 16)

Hieraus entwickelt Hamacher sein weiteres Vorgehen:

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen wird in diesem Buch eine innovative biographische Darstellungsform entwickelt, die weder der Chronologie von Leben und Werk folgt noch Entwicklung und Kontinuität auflöst oder preisgibt. Damit wird auch der Einsicht Rechnung getragen, dass eine Biographie nicht finalistisch auf den Tod hin erzählt werden soll. Dies gilt im Fall Goethes ganz besonders, wie sich abschließend zeigen wird. Die Gliederung verbindet daher Chronologie und Problemorientierung: Nach der Darstellung des autobiographischen Gesamtrahmens und einem expositorischen Panorama des literarischen Krisenmanagements des modernen Lebens werden die Themen in der Reihenfolge behandelt, in der sie in Goethes Lebenslauf und Lebensstationen in den Vordergrund traten. Die einzelnen Werke, die in diesen Kapiteln im Hinblick auf die Lebensentwürfe erschlossen werden, entstammen jedoch verschiedenen Lebensphasen. So entsteht eine mehrfache Perspektivierung: Die erste Ebene bildet das Leben, in dessen Verlauf bestimmte Themenkomplexe hervortreten. Nicht Goethes Leben an sich ist repräsentativ, aber sein vielfältiger Problemgehalt. Die konkrete und unterschiedliche Gestaltung von Themen und Problemen wird dann auf der zweiten Ebene in Längs- und Querschnitten durch das Gesamtwerk untersucht. Die dritte Ebene bildet die Rückwirkung dieser literarischen Gestaltungen auf den weiteren Verlauf des Lebens. Die auswahl der herangezogenen Texte ist durch diese spezifische Optik auf Goethes Lebensentwürfe gesteuert. (S. 19f.)

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Meyers Klassikerausgaben, Leipzig und Wien, o.J., Foto: nw2015

Diesen Ansatz gestaltet Hamacher in zwölf Kapiteln unterschiedlicher Länge (5-26 Seiten). Dies verleiht dem Buch an manchen Stellen einen gewissen episodenhaften Charakter, hat seinen Ursprung freilich in den Vorlesungen, aus denen der Text hervorgegangen ist. Hamacher hat aber auch Frische und Klarheit des akademischen Vortrags bewahrt:

Werther ist daher Problemdichtung par exellence und zugleich nahe am Kitsch, wie alle Problemdichtung, die mit den Nöten und Sehnsüchten des Publikums scheinbar bruchlos übereinstimmt. (S. 60)

Hamacher präsentiert klar formulierte Thesen, die nachvollziehbar hergeleitet und überzeugend begründet werden.

Literatur in der Moderne habe die Aufgabe, modellbildend zu wirken und Lebensentwürfe exemplarisch durchzuspielen. Goethe habe ihr diese Aufgabe, so Hamacher, erschlossen (S. 71). Zwar müsse zwischen Leben und Werk klar unterschieden werden, doch fänden sich die ‚eigentlichen‘ Lebensentwürfe nur im Werk (S. 72).

Das neunte Kapitel „Jugend, Adoleszenz, Erzählen“ nimmt mit der fesselnden Analyse von »Wilhelm Meisters Lehrjahre[n]« eine Schlüsselstellung ein. Die Entwicklung neuer Erzählgegenstände nach dem Abschluß der Entwicklung durch den Eintritt ins bürgerliche Leben findet in den Topoi von Reise und Ereignis Anknüpfungspunkte, die Hamacher überzeugend als modern bewertet (S. 153), weil sie es Goethe erlauben, Brüche darzustellen und das Nichtauserzähltsein –gerade auch im Alter, wie die Begegnung mit Marianne von Willemer im Jahre 1814 verdeutlicht (S. 203) – sichtbar zu machen. Goethes Altersproduktion, vor allem »Wilhelm Meisters Wanderjahre« und »Faust II«, knüpfen an frühere Werke an und greifen zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse und Lebensreife verarbeitend auf.

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Frontispiz, Meyers Klassikerausgaben, Leipzig und Wien o.J., Foto: nw2015

Zentral für Goethe wie alle seine Zeitgenossen war die Französische Revolution. Das Kapitel Mensch und Geschichte zeigt seine Bewältigungsstrategien und deren Grenzen auf.

Den Aspekt „Goethe und die Musik“ behandelt ein anderes, hier besprochenes Buch; Anmerkungen zur zeitgenössischen Lektüre des Werther finden sich hier.

Mein Fazit:

Eine lehrreiche und fordernde Lektüre, die mit dem einmaligen Durchgang nicht erledigt ist, sondern künftig die Auseinandersetzung mit der Primärliteratur begleiten wird.

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6 Antworten zu Goethe: Faszination des modernen Individuums

  1. Pingback: Leseliste 2014 – 4 | notizhefte

  2. dechareli schreibt:

    Ich habe bisher sehr wenig Sekundärliteratur zu Goethe gelesen, aber dies scheint mir ein Wagnis wert. Herzlichen Dank und ein frohes neues Jahr!

  3. Petra Gust-Kazakos schreibt:

    Klingt überaus interessant! Muss auf die Liste – danke für die Vorstellung.
    Liebe Grüße
    Petra

  4. Pingback: Beiträge des Jahres 2016 | notizhefte

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