Bedauern ist im Hinblick auf misslungene Kunst so lästig wie bei schlechtem Benehmen.
So schreibt Aldous Huxley 1946 im Vorwort zur unveränderten Neuauflage seines bereits 1932 erschienenen Buches, das nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus wichtiger denn je erschien. Er habe das Buch nach den Erfahrungen der zurückliegenden Jahre nicht an manchen Stellen berichtigen können, sondern hätte es neu schreiben oder eben unverändert belassen müssen.
Der Titel lautet im Original »Brave New World« und stellte die deutschen Verlage, die das Buch schon 1932 und dann nach dem Krieg vermehrt herausbrachten, vor gewisse Schwierigkeiten. Sollte man das Shakespearezitat in der den Deutschen liebgewordenen Schlegel-Tieck-Übersetzung (»Wackre neue Welt«) veröffentlichen? »Welt – wohin?«, so der erste Titel, wurde aus naheliegenden Gründen 1938 verboten. 1950 wählte man »Wackere neue Welt«, 1953 dann »Schöne neue Welt«, ebenso in einer Neuübersetzung aus dem Jahr 1973. Die vorliegende Neuübersetzung von Uda Strätling aus dem Jahre 2013 wurde »Schöne Neue Welt« betitelt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß diese Formulierung für die von Huxley entworfene Utopie steht und sich, gerade im deutschen Sprachraum, völlig von Shakespeare abgelöst hat.
An die Schullektüre habe ich keine Erinnerung mehr; es handelt sich somit der Sache nach um eine Erstbegegnung.
Wissenschaft und Technik würden so genutzt, als wären sie wie die Sabbatruhe für die Menschen gemacht und nicht (wie gegenwärtig und noch mehr in der Schönen Neuen Welt), als müssten diese ihnen angepasst und versklavt werden.
Diese ergänzende Option, die Huxley 1946 hätte hinzufügen wollen, falls er das Buch neu schriebe, nun, wie steht es um sie? Jede und jeder, die online sind, mögen die Frage selbst beantworten.
Der wahrhaft totalitäre Staat wäre der, in dem eine allmächtige Exekutive von Politbossen und ihr Heer von Managern eine Bevölkerung aus Sklaven kontrolliert, die man zu nichts zwingen muss, weil sie ihr Sklavendasein liebt. Sie dazu bringen, es zu lieben, ist in den heutigen totalitären Staaten die Aufgabe von Propagandaministerien, Zeitungsredakteuren und Lehrern. Nur sind deren Methoden noch primitiv und unwissenschaftlich.
Im Großen und Ganzen scheint uns Utopia also viel näher, als es irgendwer vor fünfzehn Jahren sich hätte denken können. Damals habe ich mein Utopia sechshundert Jahre voraus in der Zukunft angesiedelt. Heute könnte man meinen, der Horror holt uns möglicherweise bereits innerhalb der nächsten hundert Jahre ein.
So Huxley weiter im Vorwort von 1946. Mit Pränataldiagnostik tilgen Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts – also etwa zur Mitte der prognostizierten Hundertjahrfrist! – Erscheinungen des Lebens, versuchen mit kosmetisch-medizinischer Selbstoptimierung und Psychopharmaka unzulängliche Körper und Geister im Spiel zu halten, und geben gerne Daten zur Lebensführung preis.
Das Buch, das von der Büchergilde herausgebracht wurde, steckt in einem von Katrin Stangl nicht schön, aber beklemmend und daher trotz des schrillen Daherkommens letztlich passend gestalteten Umschlag. Es ist handlich und überdies lesefreundlich gesetzt.
„Kollektivität, Identität, Stabilität“ – so lautet das Motto des Weltstaats, den Huxley imaginierte. In einem unwirtlichen Labor beginnt die Geschichte:
Der einen Wintrigkeit entsprach die andere. (S. 7)
Nicht Philosophen, sondern Laubsäger und Briefmarkensammler bilden das Rückgrat der Gesellschaft.
(S. 8)Thermowäsche macht den Bock zum Hammel, aber keine Lämmer. (S. 9)
Wir blockieren den Reifungsprozess, und paradoxerweise reagiert die Keimzelle mit Vermehrung durch Zellknospung.
(S. 11)
Die künstliche Herstellung von verschiedenen Menschentypen, konditioniert für spezifische Arbeitsbelastungen, ohne Individualität, dafür mit kastentypischen Eigenschaften, um das System reibungsfrei am Laufen zu erhalten, darum geht es zunächst. Dann werden die so erzeugten Kinder weiter bearbeitet:
Sie werden mit einer, wie die Psychologen einst sagten, ›instinktiven Abscheu‹ vor Büchern und Blumen aufwachsen. Einem unabänderlich konditionierten Reflex. Sie werden ihr Leben lang vor Büchern und Botanik gefeit sein. (S. 29)
Hypnopädie und die konsequente Umkehrung der bisherigen, natürlichen (und aus der Perspektive der Schönen Neuen Welt rückständigen) Verhältnisse – die auch heute immerhin noch nicht völlig abgeschafft sind! – zeichnen das bedrückende Bild einer vollständig vom Staat kontrollierten Welt, in der jede Lebensweise vorgegeben ist. Familie erscheint als unnatürlich, romantische Liebe als widersinnig. Starke Gefühle erzeugten früher Instabilität, aber das ist in der Schönen Neuen Welt ja glücklicherweise Vergangenheit.
Gefühle lauern in der Zeitspanne zwischen Bedürfnis und Befriedigung. Diese Spanne gilt es zu verkürzen, alte, hinderliche Barrieren einzureißen. (S. 53)
Wer herumsitzt und Bücher liest, konsumiert nicht viel. (S. 60)
Die Erzählweise ist mitunter für meinen Geschmack etwas holprig, wenn drei bis vier Dialoge und Handlungsstränge ineinandergeschnitten werden. Zwar entsteht so Tempo, aber gelegentlich habe ich dabei den Faden verloren. Die Schilderungen des Kastensystems, die Erschaffung der jeweiligen Angehörigen und die spezifisch adressierte Behandlung und Versorgung, all das läßt mich beim Lesen frösteln.
Bei einem Ausflug in ein Indianerreservat – ein besonderes Privileg – werden Bernard und Lenina (zwei der Hauptpersonen) mit für sie Schrecklichem konfrontiert: Das undisziplinierte und schmutzige Leben der Wilden, Alter und körperlicher Verfall sowie – unvorstellbar! – einer Beta-Frau, die schwanger bei einem solchen Ausflug zurückgelassen worden war, dort einen Sohn gebar und unter dem Druck der Verhältnisse die Konditionierung zwar noch kennt, aber sie kaum noch leben kann und durch Alkoholkonsum zum Wrack wird. Diese Aussage zeigt, wie fragil die Schöne Neue Welt letztlich ist, wenn sie nicht als System permanent erhalten, gelenkt und erneuert wird.
Die Geschichte nimmt dann einen dramatischen Verlauf, bei dem Shakespeare keine geringe Rolle spielt, ist ihm und seinen Figuren doch nichts Menschliches fremd. Die Konfrontation des fordistischen London mit dem Wilden John Savage bringt Erschütterungen für beide Seiten, doch am Ende unterliegt der einzelne Mensch, das System siegt. Pessimistisch und zynisch erklärt der Controller, Mustapha Mond, dem Wilden wie und warum das System funktioniert, berichtet von gescheiterten Experimenten und nennt den denkenden Menschen das größte Risiko, das um jeden Preis ausgeschaltet werden müsse. Nur so könne das Glück aller und ungestörter Konsum möglich sein.
Huxleys Buch ist eine scharfe Zeitkritik – er extrapoliert die Zustände in den USA in eine vom Totalitarismus geformte Zukunft. Edith Whartons »Dämmerschlaf« läßt ebenso grüßen wie Upton Sinclairs »Öl!«. Meisterhaft nutzt er die Kraft von Shakespeares Dialogzeilen, um Gefühle und Leidenschaften in einer sterilen Welt explodieren zu lassen. Die Stabilität hat ihren Preis; es ist nicht das von Faust ersehnte Glück des Augenblicks – „Verweile doch, Du bist so schön!“ – sondern eine betriebsame Leere, deren Schwungrad Konsum und Produktion sind. Kultur, Leidenschaft und Zweifel stören in dieser Welt nur. Aber auch die Nutznießer sind vollständig eingebunden in die Schöne Neue Welt, ihre Herrenrasse agiert nur an einer längeren Leine als die anderen.
Huxley (1894-1963) ist ein Zeitgenosse Ernst Jüngers, nimmt wegen eines Augenleidens allerdings nicht am Ersten Weltkrieg teil. Er beteiligt sich aber interessanterweise wie Jünger an Drogenexperimenten und verarbeitet diese Erfahrungen literarisch.
Mein Fazit:
Ein gut und zügig zu lesendes Buch mit einem wichtigen, nach wie vor aktuellen Thema. Unter Rückgriff auf die klassische Erzähltechnik des Reiseromans wird eine scharfe Gegenwartskritik geübt und eine Lanze für Individualität und zwischenmenschliche Beziehungen gebrochen.
Wirklich ein großartiges Buch! War schon in der Schule eines der intensiveren Leseerlebnisse für mich. Schön, es hier bei dir zu finden …
Faszinierend!
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Hallo Norman,
eine sehr schöne Rezension. Ich hab das Buch auch vor geraumer Zeit gelesen und bin auch rückblickend noch sehr begeistert. Sein Vorwort von 1946 passt erschreckend hervorragend zu den aktuellen politischen Verhältnissen. Ich glaube das er zusammen mit Orwell erschrecken würde, was alles von ihrer finsteren Zukunftsvision schon Realität ist.
Klasse, dass du solche Klassiker hier rezensierst. Wirklich lesenswert!
Liebe Grüße
Tobi
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