Die Emser Depesche vom 13. Juli 1870

Foto: nw2014

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Ich hatte das erste Mal tatsächlich im Geschichtsunterricht von ihr gehört und im wesentlichen behalten, daß sie den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 auslöste und  als Musterbeispiel für den Bismarckschen Politikstil gilt: entschlossen und skrupellos – erneut eine Chance für den preußischen Ministerpräsidenten und mittlerweile Kanzler des Norddeutschen Bundes, die Vorhersage seiner Programmrede in der Budgetkommission des Preußischen Abgeordnetenhauses vom 30. September 1862 wahrzumachen, daß nämlich die „großen Fragen der Zeit“ „nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse […] entschieden [werden] […] sondern durch Eisen und Blut“ (Sautter, Nr. 16, S. 42).

Soweit, so gut. Aber was war eigentlich geschehen und was kann man darüber lesen?

In Spanien war man bei der Suche nach einem neuen, konstitutionellen Monarchen auf den katholischen Erbprinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen verfallen. Die Angelegenheit plätscherte zunächst vor sich hin, involvierte aber auch den Preußischen König Wilhelm I. in seiner Eigenschaft als Chef des Hauses Hohenzollern. Für die französischen Akteure – Kaiser, Regierung und Öffentlichkeit – war ein Deutscher auf dem Thron in Madrid nicht vorstellbar. Paris erinnerte sich und die Welt an die Einkreisung durch die Habsburger zu Zeiten Karls V. und forderte von Berlin den Rückzug der mittlerweile beschlossenen Kandidatur Leopolds. Außenminister Gramont startete eine breit angelegte Kampagne gegen Preußen und drohte im Parlament am 6. Juli 1870 mit Krieg.

Berlin und Sigmaringen gaben nach, der Verzicht Leopolds auf die Kandidatur wurde von dessen Vater am 12. Juli 1870 erklärt, zehn Tage, nachdem die ganze Angelegenheit ruchbar geworden war.

Somit waren die französischen Forderungen erfüllt, Spanien und Preußen in die Schranken gewiesen worden und die ganze Sache hätte ihr Bewenden haben können. So sah es eigentlich auch der französische Kaiser, die Regierung und Öffentlichkeit wollten jedoch mehr. Der französische Botschafter Benedetti sprach bei König Wilhelm I. vor, der zur Kur in Bad Ems weilte. Benedetti forderte von ihm am 13. Juli 1870 „eine Erklärung, daß er mit seiner ursprünglichen Zustimmung zur Kandidatur Leopolds den Interessen und der Ehre der französischen Nation nicht habe zu nahe treten wollen und daß er einer neuerlichen Kandidatur niemals seine Zustimmung geben werde, also eine Quasi-Entschuldigung und eine schriftliche Garantie.“ (Nipperdey, S. 59)

Der König wies dieses Ansinnen zurück und ließ Bismarck über einen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes unterrichten.

Diese ursprüngliche Emser Depesche vom 13. Juli 1870 hatte folgenden Wortlaut (beide Versionen nach Sautter, Nr. 21, S. 51f.):

Seine Majestät der König schreibt mir:

„Graf Benedetti fing mich auf der Promenade ab, um auf zuletzt sehr zudringliche Art von mir zu verlangen, ich sollte ihn autorisieren, sofort zu telegraphieren, daß ich für alle Zukunft mich verpflichtete, niemals wieder meine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Kandidatur zurückkämen. Ich wies ihn, zuletzt etwas ernst, zurück, da man à tout jamais dergleichen Engagement nicht nehmen dürfe, noch könne. – Natürlich sagte ich ihm, daß ich noch nichts erhalten hätte, und da er über Paris und Madrid früher benachrichtigt sei als ich, er wohl einsähe, daß mein Gouvernement wiederum außer Spiel sei.“

Seine Majestät hat seitdem ein Schreiben des Fürsten [von Hohenzollern-Sigmaringen, N.W.] bekommen. Da Seine Majestät dem Grafen Benedetti gesagt, daß er Nachricht vom Fürsten erwarte, hat Allerhöchstderselbe mit Rücksicht auf die obige Zumutung, auf des Grafen Eulenburg und meinen Vortrag beschlossen, den Grafen Benedetti nicht mehr zu empfangen, sondern ihn nur durch einen Adjutanten sagen zu lassen: daß Seine Majestät jetzt vom Fürsten die Bestätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris schon gehabt, und dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe.

Seine Majestät stellt Eurer Exzellenz anheim, ob nicht die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweisung sogleich sowohl unseren Gesandten als in der Presse mitgeteilt werden sollte?

Abeken

Bismarck erhielt diese Depesche, als er mit Roon und Moltke zu Abend aß. Die drei waren zunächst enttäuscht vom neuerlichen Zurückweichen des Königs, doch dann erkannte Bismarck, welche Chance das Telegramm bot. Er redigierte den Wortlaut und ließ es so an die Presse und alle preußischen Gesandtschaften aussenden:

Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern der Kaiserlich Französischen Regierung von der Königlich Spanischen amtlich mitgeteilt worden sind, hat der französische Botschafter in Ems an Seine Majestät den König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisieren, daß er nach Paris telegraphiere, daß Seine Majestät der König sich für alle Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Kandidatur wieder zurückkommen sollten. Seine Majestät der König hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß Seine Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzuteilen habe.

In dieser Fassung stellte die Emser Depesche eine diplomatische Ohrfeige dar, auf die Frankreich am 14. Juli mit der Mobilmachung und am 19. Juli 1870 mit der Kriegserklärung an Preußen reagierte.

Golo Mann erzählt und bewertet die Angelegenheit so:

„Ob Bismarck die Kandidatur des Prinzen von Hohenzollern für den spanischen Thron von vornherein betrieb, um Napoleon eine Kriegsfalle zu stellen, wie dies sein bewundernder Gehilfe Lothar Bucher später behauptet hat; ob er nur die Gelegenheit ergriff, um Preußens Glorie zu mehren, und dann auch im Juli 1870 die Gelegenheit zum Kriege, die Frankreich ihm verblendet bot, lieber ergriff als eine diplomatische Niederlage – diese tausendmal erörterte Frage können wir getrost auf sich beruhen lassen. Im Juli 1870 stand ein Trumpfen gegen das andere; eine ihrem Inhalt nach völlig gewichtlose, aber törichte französische Forderung beantwortete Bismarck mit einer Pressenotiz, die uns in unseren verwilderten Zeiten bis zum Lachhaften harmlos vorkommt, nach dem damals noch bestehenden Ritterkodex jedoch einer Kriegserklärung gleichkam. Die Bonapartisten, in ihrer selbstverschuldeten Not, wollten eine billige Demütigung Preußens oder, wenn diese nicht zu haben war, Krieg; Bismarck wollte ihn auch oder jedenfalls lieber als diese Demütigung; um so mehr wollte er ihn, weil er ihn sowieso für unvermeidlich hielt und weil der Krieg für seine ins Stocken geratene Politik eine momentane Bequemlichkeit bedeutete.“ (Mann, S. 379)

Gordon A. Craig, der us-amerikanische Historiker, sah es so:

„Die Veröffentlichung der Emser Depesche und die folgende Auseinandersetzung in der politischen Kampfpresse links und rechts des Rheins schufen eine Atmosphäre, die Vernunft und Kompromisse nicht mehr zuließ. Bismarck war immer der Überzeugung gewesen, daß Napoleon III. und [Ministerpräsident, N.W.] Ollivier [sic] sich gegen den Krieg aussprechen würden, und er lag mit dieser Beurteilung richtig. Aber selbst für Ollivier stand es fest, daß ein Zurückweichen zu diesem Zeitpunkt einem unerträglichen Ehrverlust gleichkommen würde, und der Kaiser glaubte, wie der britische Botschafter notierte, er könne es sich im Interesse der kaiserlichen Erbfolge nicht leisten, einen Kniefall vor Preußen zu machen. Es läßt sich nicht behaupten, daß Bismarck 1870 den Krieg wollte, aber dank der Krise, die er mit ins Werk gesetzt hatte, dank Gramonts Ungeschicklichkeit in ihrer Bewältigung und dank der Leidenschaften, die sie in der französischen Öffentlichkeit entfachte, bekam er ihn.“ (Craig, S. 36)

Der britische Historiker Christopher Clark schreibt:

„Bismarck kontrollierte die Ereignisse nicht. Er hatte die Kandidatur Leopolds nicht geplant, und obwohl er sie im Frühjahr und Sommer 1870 nach Kräften unterstützte, war er doch bereit, klein beizugeben, als es danach aussah, als habe der preußische König einem Rückzug zugestimmt und sich mit einem französischen Sieg auf dem diplomatischen Parkett abgefunden. Man kann ohne Übertreibung noch nicht einmal behaupten, die Franzosen hätten ihm in die Hand gespielt, da ihre Bereitschaft, einen Krieg zu riskieren, nicht auf Bismarcks Handlungen an sich zurückging, sondern vielmehr auf die grundsätzliche Weigerung, eine Gefährdung ihrer privilegierten Stellung im internationalen System hinzunehmen. Die Franzosen zogen 1870 in den Krieg, weil sie – nicht zu Unrecht – überzeugt waren, sie würden ihn gewinnen. So gesehen, wäre es übertrieben zu behaupten, Bismarck habe den Krieg mit Frankreich »geplant«. Bismarck war kein Exponent des Präventivkriegs. […] Andererseits stand ein Krieg gegen Frankreich mit Sicherheit durchaus auf der seiner Liste politischer Optionen, vorausgesetzt allerdings, die Franzosen ergriffen die Initiative und handelten als Erste.“ (Clark, S. 628)

Sehr differenzierend wägt Thomas Nipperdey ab:

„Bismarcks Politik war die des kalkulierten Risikos, und das schloß den Krieg ein. Er war wie seine Gegner in Paris – und das gehörte zu den Grundvoraussetzungen der europäischen Politik jener Zeit – entschlossen, eher einen Krieg zu riskieren, als eine schwere diplomatische Niederlage, die die nationale Ehre berührte, hinzunehmen. Insoweit war seine Politik nicht anders als die seiner Pariser Kontrahenten. Und er war, weil ein – siegreicher – Krieg seine wesentlichen politischen Ziele befördern mußte, auch zum Krieg bereit. Aber seine Politik war keine «Kriegspolitik», steuerte durch aus nicht auf einen Krieg zu. Gall hat gemeint, Bismarcks erster Rückzug – im Juli – sei in Wahrheit ein Mittel gewesen, Frankreich zum Krieg zu provozieren […] Die Bonapartisten brauchten nicht provoziert zu werden; sie wollten ihren diplomatischen Sieg bis zum letzten ausnutzen, und als sie damit in Schwierigkeiten gerieten, mündete ihre bisherige Risiko- und Kriegsbereitschaft in den Willen zum Krieg.“(Nipperdey, S. 60f.)

„Die Frage nach der Verantwortung für den Kriegsausbruch hängt auch damit zusammen, wie hoch man den Erfolgszwang einschätzt, unter dem sich die leitenden Politiker befanden. Sicher ist, daß das napoleonische System selbst eine nur diplomatische Niederlage nicht riskieren konnte […].“ (Nipperdey, S. 61)

„Es ist falsch zu meinen, [Bismarck] habe die Situation deshalb geschaffen. Aber er hat sie gerne ergriffen. Er hat die Krise mit herbeigeführt, gewiß. Er hat nicht den Krieg geplant oder vom Zaune gebrochen, aber er hat die Kriegsmöglichkeit gerne genutzt.“ (Nipperdey, S. 62)

Zum Schluß dieser Auswahl das Urteil bei Heinrich August Winkler:

„Die Emser Depesche war ein Coup, mit dem Bismarck unter Mißachtung aller einschlägigen Verfassungsbestimmungen den preußischen König und Inhaber der Präsidialgewalt des Norddeutschen Bundes überspielte. Der Krieg, den die Depesche unvermeidbar machte, war Bismarcks Krieg. Der preußische Ministerpräsident und Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes hatte diesen Krieg gewollt, weil er die einmalige Gelegenheit bot, mit der Unterstützung ganz Deutschlands das französische Veto gegen die deutsche Einheit außer Kraft zu setzen.

Dennoch wäre es falsch, von einer alleinigen Kriegsschuld Bismarcks, Preußens oder Deutschlands zu sprechen. Wie 1864, und 1866 gab es 1870 eine Kriegspartei auch auf der anderen Seite damals in Kopenhagen und Wien, jetzt in Frankreich. […] Der Krieg von 1870/71 war mithin auch ein Krieg Napoleons III. – sein letzter, wie sich bald herausstellen sollte.“ (Winkler, S. 203)

 

Also ein uneindeutiger Befund, geschuldet der Gemengelage von offenen und verdeckten Motiven, Fehleinschätzungen und einer, einmal angestachelt, nur noch schwierig bis kaum zu kontrollierenden Öffentlichkeit. Die Nutzbarmachung der Presse als Resonanzboden für Politik jedenfalls macht Bismarcks Vorgehen so modern. Zunächst eröffnete sie ihm eine Handlungsoption, nämlich den Krieg als deutschen und nicht nur als preußischen führen zu können. Für Paris erwies sich die Mobilisierung der öffentlichen Meinung vor dem Krieg insofern als verhängnisvoll, als es ab einem bestimmten Zeitpunkt kein Zurück mehr geben konnte. Für Berlin entstand diese Situation am Ende, als es um die Annexion Elsaß-Lothringens ging – die wiederum eine der Ursachen war, die schließlich zum ersten Weltkrieg führte. Napoleon führte den Krieg vorrangig aus dem innenpolitischen Motiv des Machterhalts und auch zur Bewahrung des mitteleuropäischen Status quo, Bismarck aus dem deutschlandpolitischen Motiv der Einheit unter preußischer Führung.

 

Fortsetzung

Verwendete Literatur:

Udo Sautter, Deutsche Geschichte seit 1815: Daten, Fakten, Dokumente, Bd. III: Historische Quellen, 2004.

 

Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, 2006, dt. 2007.

Gordon A. Craig, Deutsche Geschichte 1866-1945. Vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Dritten Reiches, 1978, dt. 1980.

Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1958/1992, 10. Aufl. 2004.

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, 1992.

Andreas Rose, Deutsche Außenpolitik in der Ära Bismarck (1861-1890), 2013.

Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. I: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, 5. Auf. 2002.

 

 

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2 Antworten zu Die Emser Depesche vom 13. Juli 1870

  1. Kaffeehaussitzer schreibt:

    Ein sehr gelungener Beitrag! Vielen Dank für diese interessante Zusammenstellung.

  2. Pingback: Statistisches | notizhefte

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