Anfänge

Bei der Beschäftigung mit meinem Blogprojekt „Erste Sätze“ habe ich naturgemäß viele Bücher in die Hand genommen und nach ersten Sätzen gesucht, die mir gut gefallen haben. Dabei bin ich auf eine bestimmte Anfangstechnik bei historischen Büchern gestoßen, das ich nachfolgend vorstellen und kurz kommentieren möchte.

Die hier vorgestellten Anfangspassagen entstammen (bis auf die letzten drei) Büchern zur deutschen Geschichte, wobei ich sie hier nach den behandelten Zeiträumen chronologisch ordne. Es handelt sich um Gesamtdarstellungen, vor allem  bestimmter Epochen des 19. und 20. Jahrhunderts. Später folgen als Kontrast einige Eröffnungssätze anderen Themenzuschnitts.

„Am Anfang war Brandenburg. Rings um Berlin  erstreckt sich auf etwa 40.000 Quadratkilometern das Kernland jenes Staates, der später unter dem Namen Preußen in die Geschichte eingehen sollte.“

Christopher Clark, Preußen, Aufstieg und Niedergang 1600-1947, 2006, dt. 2007, S. 21.

„Im Anfang war das Reich: Was die deutsche Geschichte von der Geschichte der großen westeuropäischen Nationen unterscheidet, hat hier seinen Ursprung.“

Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. I: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, 5. Aufl. 2002, S. 5.

 „Am Anfang war Napoleon. Die Geschichte der Deutschen, ihr Leben und ihre Erfahrungen in den ersten eineinhalb Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in denen die ersten Grundlagen eines modernen Deutschland gelegt worden sind, steht unter seinem überwältigenden Einfluß. Die Politik war das Schicksal, und sie war seine Politik: Krieg und Eroberung, Ausbeutung und Unterdrückung, Imperium und Neuordnung.“

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 bis 1866, Bürgerwelt und starker Staat, 1983, S. 11.

„Gewiß, die Geschichte, die 1866 begann, war offen. Und gewiß, sie war, mehr als üblich, von einem Manne geprägt, von Bismarck. Mit ihm fing alles an. Aber sie war auch geprägt von festen Strukturen und objektiv ablaufenden Prozessen, von den Lebensformen des Alltags, von der Wirtschaft, von der gesellschaftlichen Schichtung und ihren Verschiebungen. Die Deutsche Geschichte ist die Geschichte der Deutschen, des deutschen Volkes. Damit fangen wir diesmal an.“

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, 1990, S. 9.

Beide Werke Nipperdeys begleiten mich schon lange, dies gilt gerade auch für den Craig, den ich bereits als Oberschüler zu Weihnachten geschenkt bekam. Und wie eben schon geht es darum, ob man mit Bismarck anfangen könne.

„Ist es ein Fehler, bei Bismarck anzufangen? So viel und so nachdrücklich wird heute über die vorrangige Bedeutung wirtschaftlicher und sozialer  Kräfte in der Geschichte geschrieben, daß man Gefahr läuft, als altmodisch zu gelten, wenn man der Persönlichkeit zu großes Gewicht beimißt. Es ist jedoch gewiß unnötig, sich für die Nennung des Namens Bismarck am Anfang dieses Buches zu entschuldigen.“

Gordon A. Craig, Deutsche Geschichte 1866-1946, Vom Norddeutschen Bund bis zum Ende des Dritten Reiches, 1978, dt. 1980, S. 13.

Anders ist demgegenüber der Zugang, den Golo Mann wählt. Das Anfangsproblem stellt sich für ihn nicht. Er war auch Herausgeber der imposanten Propyläen Weltgeschichte, die ab 1960 im Druck erschien (und die zu besitzen ich mich glücklich schätze). Dies hat, wohl neben Manns persönlicher internationaler Grundhaltung, seine Herangehensweise auch für die Bearbeitung der deutschen Geschichte spürbar beeinflußt. Dennoch bleibt sein Ansatz eurozentrisch und kann er ein Überlegenheitsgefühl nicht verleugnen:

„Viel hat der europäische Genius erfunden und der Welt gegeben; Böses und Gutes, solche Dinge zumeist, die zugleich gut und böse waren. Darunter der Staat; darunter die Nation. Sie sollen uns nicht vormachen, daß es anderswo, in Asien und in Afrika, Nationen und Staaten vordem gegeben hätte. Dort werden sie heute gemacht, und nachgemacht, und dort werden die von Europa geprägten Formen als Waffen gegen Europa verwandt. Am Ende ist das nicht ungerecht und keine Demütigung, wenn wir es richtig auffassen. […] Man kann die Geschichte einer europäischen Nation zu irgendeiner Zeit nicht erzählen, ohne zugleich das ganze Europa im Auge zu haben.“

Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1958, 1992, S. 19f.

Auch Franz Schnabel fängt anders an. Er stellt fest, daß der Gegenstand, den er betrachtet, abgeschlossen ist, als er sich ihm 1929 zuzuwenden beginnt.

„Das Jahrhundert, das in diesem Werke beschrieben wird, liegt abgeschlossen und vollendet hinter uns. Es ist die letzte und jüngste Epoche, durch welche die deutschen und die europäischen Menschen auf ihrem langen Entwicklungsgange bis heute hindurchgeschritten sind; überall arbeiten wir auf den von ihr geschaffenen Voraussetzungen und leben unter Bedingungen, die aus ihr stammen, und unsere heutige Generation, die jetzt auf der Höhe ihres Lebens steht, hat noch ihre erste Jugend und die erste Zeit ihres Reifens und Bewußtwerdens in jenen Jahren empfangen, da das alte Jahrhundert herrschte und in Geltung war.“

Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Erster Band: Die Grundlagen, 1929, 3. Aufl. 1947, S. 3.

Eine moderne Darstellung des Kaiserreichs spart, anders als Nipperdey und Craig, Bismarck im ersten Satz aus (obwohl er vorkommt und der kundige Leser ihn vor dem inneren Auge sieht) und moniert stattdessen die fehlende demokratische Legitimation der Reichsgründung. Ob sie in der Epoche denkbar gewesen wäre, und nicht lediglich aus heutiger Perspektive wünschenswert, bleibt freilich unerörtert.

„Es war bitterkalt im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, an jenem 18. Januar 1871, als das deutsche Kaiserreich ausgerufen wurde. Das Ganze war eine militärische Veranstaltung. Wohin der Blick auch fiel – Uniformen, Helme, Säbel, Fahnen und Standarten; die wenigen Gestalten im Frack verloren sich inmitten dieser kriegerischen Gesellschaft. Das Volk war nicht vertreten, nicht einmal durch eine Delegation des gewählten Parlaments, des norddeutschen Reichstags – ein getreues Abbild der Tatsache, daß der kleindeutsch-preußische Nationalstaat nicht durch einen demokratischen Willensentscheid, sondern durch Siege auf dem Schlachtfeld zustande gekommen war.“

Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht, Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918, 1997, S. 19.

Eine wissenschaftshistorisch bedeutsame und glänzend geschriebene Arbeit, die dezidierte Urteile verkündet, nennt den Reichsgründer hingegen. Im thematischen Fokus stehen dann aber andere Akteure, die für die Erörterung der Kriegsziele, um die es in dem Buch geht, wichtig sind:

„Das Deutsche Reich von 1871, die Schöpfung Bismarcks, war eine Verbindung des preußischen Militär- und Obrigkeitsstaates mit den führenden Schichten des durch Handel und Industrie erstarkten liberalen Bürgertums. Die neue Staatsgründung gehörte zwar ganz in die Geschichte der nationalstaatlichen Bewegung, die von 1789 bis in unsere Gegenwart reicht, sie nimmt jedoch in ihr eine Sonderstellung von welthistorischer Bedeutung ein. Die Deutschen waren die einzigen, die sich ihren Staat nicht von unten her im Bunde mit der Demokratie gegen die alten Mächte selbst schufen, sondern ihn aus den Händen dieser in der Abwehr der Demokratie ‚dankbar empfingen‘ (Heimpel).“

Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, 1961, Sonderausgabe 1967, Nachdruck 2004, S. 13.

Auf den „Großen Krieg“ folgte in Deutschland die Republik. Hagen Schulze nennt Weimar im Vorwort seines 1982 erschienenen Buches – aus der Perspektive der vom RAF-Terrorismus geprägten Krisenjahre der Bonner Republik – das Menetekel der zweiten deutschen Republik: „Bonn ist nicht Weimar. Aber ohne Weimar ist kein Bonn.“ Sein Text beginnt dann wie folgt:

„In der Geschichte geschehen Wunder, die niemand bemerkt. Wie sonst wäre es möglich, daß die Deutschen wie ein Mann hinter dem Reichsministerpräsidenten Scheidemann stehen, als dieser nach Bekanntwerden der alliierten Friedensbedingungen am 12. Mai 1919 vor der Nationalversammlung ausruft: »Dieser Vertrag ist so unannehmbar, daß ich heute noch nicht zu glauben vermag, die Erde könne solch ein Buch ertragen …« Und niemand sieht, worin das eigentlich Erstaunliche dieses Friedens liegt: Daß nämlich das Deutsche Reich, von einigen Grenzänderungen abgesehen, den Weltkrieg überhaupt als Ganzes überdauert hat.“

Hagen Schulze, Weimar, Deutschland 1917-1933, 1982, S. 15.

„Als das Deutsche Reich am 1. August 1914 mit der Kriegserklärung gegen das zaristische Rußland den seit langem befürchteten europäischen Krieg, der sich bald zum Weltkrieg ausweitete,  unabwendbar machte, ahnten nur wenige, daß an dessen Ausgang der Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs stehen würde.“

Hans Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar, 1918-1933, 1989, S. 13.

„Im März 1921, knapp zweieinhalb Jahre nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches, schloß der sozialdemokratische Theoretiker Eduard Bernstein sein Buch ‚Die deutsche Revolution, ihr Ursprung, ihr Verlauf und ihr Werk‘ ab. Es war ein Versuch des damals Einundsiebzigjährigen, sich und den Zeitgenossen klar zu machen, warum die Staatsumwälzung in Deutschland ganz anders abgelaufen war als alle großen Revolutionen der Geschichte.“

Heinrich August Winkler, Weimar 1918-1933, Geschichte der ersten deutschen Demokratie, 1993, S. 13.

Am Anfang der Weimarer Republik stehen also der Krieg, genauer sein Ende, der Versailler Vertrag, und das Ende des Kaiserreichs. Die Monarchen schmeißen hin („Macht euern Dreck aleene!“), die Matrosen begehren auf und installieren Räte, die SPD übernimmt Verantwortung. Zwar rufen Scheidemann und Liebknecht die Republik gleich zweimal aus, aber letztendlich schlittert das fortbestehende Reich irgendwie in die neue Staatsform hinein. Daß es so kam, wurde von der Obersten Heeresleitung durchgesetzt, die zuerst die Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen forderte, die Parlamentarisierung des Reiches einleitete und dann – vor dem Hintergrund der Revolutionswoche – den Kaiser zum Rücktritt bewegte. Der von den Alliierten intendierte Regime-Change läuft spontan und urwüchsig ab. Die vorgenannten Anfangsabschnitte bilden das ab.

Und wie wird über die Bundesrepublik geschrieben?

„Am 15. September 1949 wurde der Bundeskanzler gewählt. Aber niemand ahnte, daß mit diesem Tag die Adenauer-Ära begonnen hatte. Der Dreiundsiebzigjährige selbst hatte seine Konkurrenten bei der berühmten Rhöndorfer Konferenz am 21. August selbst mit der Bemerkung beruhigt: »Ich habe mit Professor Martini, meinem Arzt gesprochen, ob ich in meinem Alter dieses Amt wenigstens noch für ein Jahr übernehmen könne. Professor Martini hat keine Bedenken. Er meint, auch für zwei Jahre könne ich das Amt ausführen.« Es sollten 14 Jahre werden, immerhin zwei Jahre mehr als das Dritte Reich und genau so lange, wie die Weimarer Republik gedauert hatte.“

Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer, Gründerjahre der Republik 1949-1957, 1981, S. 27.

„Wie läßt sich eine Geschichte des Bundesrepublik Deutschland heute schreiben? Liefert die Geschichte der zweiten deutschen Demokratie den Stoff für ein Epos? Einem Drama gleicht sie glücklicherweise nicht: Im Unterschied zur Weimarer Republik kannte der Weststaat keine dramatischen Systemkrisen und »keine bis auf die Knochen einschneidenden Zäsuren«.

Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, 2006, S. 11.

„Die Niederlage war eine Befreiung. Doch in ihr steckte nicht der Keim des Neubeginns. Es führte kein direkter Weg vom 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, zum 23. Mai 1949, dem Gründungstag der Bundesrepublik, an dem das Grundgesetz verkündet wurde. Die Versuchung ist groß, die Geschichte der Besatzungszeit, jener Jahre zwischen Ende und Anfang, als eine Aufstiegs-, eine Wiederaufstiegsgeschichte zu erzählen, die sich dann trefflich mit der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik seit 1949 verbindet. Eine solche Erzählung wird jedoch den Erfahrungen der Menschen und ihren Wahrnehmungen in jener Zeit nicht gerecht.“

Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit, Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, 2009, S. 21.

Und als Kontrast hierzu ganz anders geschriebene Anfänge in kleiner Auswahl, zunächst zwei Blicke auf das frühe zwanzigste Jahrhundert mit europäischem Fokus.

„Die dritte Periode der neuen Geschichte oder die neueste Geschichte beginnt mit dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland und setzt sich bis in unsere Tage fort. Diese neue Ära in der Geschichte der Menschheit ist die Ära des Zusammenbruchs des Kapitalismus und der Festigung der neuen sozialistischen Gesellschaft.“

Autorenkollektiv Moskau, Geschichte der neuesten Zeit, Teil I 1917-1939, dt. 1961, S. 1.

„Nichts scheint trivialer zu sein und ist doch weniger selbstverständlich als die These, die angemessene Perspektive, in welcher der Bolschewismus und die Sowjetunion, der Nationalsozialismus und das Dritte Reich gesehen werden müßten, sei diejenige eines europäischen Bürgerkrieges.“

Ernst Nolte, Der Europäische Bürgerkrieg 1917-1945, Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, 6. Aufl. 2000, S. 33.

Und zum Schluß ein Klassiker der Geschichtsschreibung, ganz anders als alles Bisherige:

„Rings um das mannichfaltig gegliederte Binnenmeer, das tief einschneidend in die Erdfeste den größten Busen des Oceans bildet und, bald durch Inseln oder vorspringende Landfesten verengt, bald wieder in beträchtlicher Breite sich ausdehnend die drei Teile der alten Welt scheidet und verbindet, siedelten in alten Zeiten Völkerstämme sich an, welche, ethnographisch und sprachgeschichtlich betrachtet verschiedenen Racen angehörig, historisch ein ganzes ausmachen.“

Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd. I: Bis zur Schlacht von Pydna, 6. Aufl. 1874, Nachdruck 2006, S. 3.

Was lehrt uns das alles? Die Vergewisserung des Gegenstandes über den geschrieben wird, gehört selbstverständlich zum Schreiben dazu. Und es gibt Themen, bei denen manche Autoren den Leser an dieser Vergewisserung teilhaben lassen wollen. Und so erzählen die Bücher – über ihre Anfänge hinaus – auch viel über ihre Autoren und deren Zeit.

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3 Antworten zu Anfänge

  1. kai bremer schreibt:

    Nipperdey ist immer noch der Beste. Würde gerne noch mal als Mäuschen in einem Geschichtsseminar für Anfänger sitzen und hören, ob es noch diese Begeisterung für den Anfang geben kann. War bei mir der Fall. so ist Dein Artikel eine gute Erinnerung. Schulze ist auch sehr gut, hatte ich gar nicht mehr in Erinnerung. Conze auch.
    Sehr schön der Kontrast mit T. Mommsen. Demnächst dann Herodot und Thukydides?

    • nweiss2013 schreibt:

      Danke für das Feedback! Ich kann mir vorstellen, daß Nipperdey Studenten zu begeistern vermochte. Das Buch von Conze kannte ich noch gar nicht. Fiel mir gestern in die Hand, als ich in der Stabi die Stellen bei Schwarz und Schnabel heraussuchte. Sollte ich aber mal lesen.

  2. Pingback: Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg | notizhefte

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