Navid Kermani, Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan, 2018, Tb. 2020, 44 Seiten.

Ein Reisetagebuch auf den Spuren der Geschichte, voll von Begegnungen und reich an Beschreibungen und Eindrücken. Gerade in Zeiten von Corona empfand ich die Lektüre als sehr bereichernd und den ausgefallenen akademischen Reisemonat September durchaus kompensierend.
Die Geschichte Mittel- und Osteuropas, durch das die Reise bis herunter zum Schwarzen Meer geht, dessen Nordlüste entlang und dann über den Kaukasus und hinein in den Iran, ist keine friedliche. Im 20. Jahrhundert wurden frühere, teils jahrhundertealte Konflikte noch blutiger überschrieben durch Wehrmacht und SS einerseits und Sowjetisierung und stalinistischen Terror andererseits. Kermani weist hin auf die sich überlagernden Schichten und spürt den Verwerfungen nach, wenn er bei seiner lektüregeleiteten Reise Denkmale und Erinnerungsorte aufsucht und dort, ebenso wie am Wegesrand, nach Gesprächspartnern sucht, um Oral History festzuhalten.
Der Autor ist ein gebildeter Mann, der abwägend argumentiert, aber auch klare Positionierungen nicht scheut:
Und wie schon die Osmanen richten die Völker, die sich gegen Rußland behaupten wollen, ihre Hoffnung auf Europa und nicht etwa auf die islamische Welt. (S. 211)
Sein Buch ist fesselnd erzählt; es stellt eine gelungene Mischung aus Gesprächen und Beobachtungen vor Ort mit fundierten Rechercheergebnissen dar. Er bezieht sich außerdem auf Memoirenliteratur ebenso wie auf Dichtung, die in den von ihm bereisten Räumen entstanden ist.
Man erfährt, daß die Nazis auf der Krim das Reich der Goten wiedererrichten wollten, deshalb Sewastopol in Theoderichhafen und Simferopol in Gotenburg umbenannten und dort zu diesem Zweck die Südtiroler ansiedeln wollten (S. 149). Die Liste von Absurditäten, Mißverständnissen und Gewalttaten auf allen Seiten ist erschreckend lang. Erinnerungen, Traumata und Narben sind allgegenwärtig und sitzen tief. Umso erstaunlicher erscheint die nach wie vor und gerade auch unter schwierigen Bedingungen weitverbreitete Gastfreundschaft.
Eigene Reiseeindrücke aus Polen, dem Baltikum und Weißrußland beruhen auf kürzeren, nicht selten ritualisierten Begegnungen mit ausgewählten Partnern. In kleinerem Maßstab kann ich vieles bestätigen, was Kermani festhält. Der Dialog ist voraussetzungsreich und oft schwierig, die Last der Geschichte erschwert nicht den persönlichen Umgang, aber sie hat Hürden aufgerichtet und begrenzt oft Handlungsspielräume.
Zielpunkt der Reise ist der Iran, aus dem Kermanis Familie stammt. Das Land mit seiner langen, wechselvollen Geschichte und seiner reichen Kultur ist ihm erkennbar fern und nah zugleich. Kermani stellt aber nicht seine eigenen Befindlichkeiten und Fragen seiner Zugehörigkeit in den Mittelpunkt, sondern zeichnet ein Bild von einem Land, das komplexer ist, als Schlagzeilen üblicherweise vermitteln.
Insgesamt enthält das vorliegende Reisetagebuch objektive und subjektive Passagen, wobei Kermani bei den letzteren recht transparent vorgeht. Es handelt sich um ein gut geschriebenes, bei aller Lesbarkeit inhaltsreiches Sachbuch, das zum Nachdenken und Diskutieren einlädt.