
Willi Winkler, Das braune Netz | Foto: nw2019
Willi Winkler, Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde, 351 Seiten plus 62 Seiten Anhang.
Worum geht es?
Der langgediente Journalist (Zeit Spiegel, Süddeutsche) und Autor mehrerer Bücher legt hier eine akribische Erzählung über die ersten zwanzig Jahre der Bundesrepublik Deutschland vor, die er mit dem Amtsantritt Willy Brandts enden läßt. Dabei geht er der Frage nach, wie staatliche Neuorganisation, gesellschaftliche Neuordnung und wirtschaftlicher Wiederaufbau unter – positiver wie negativer – Mitwirkung ehemaliger Nationalsozialisten, Wehrmachtsangehöriger und SS-Männer zustande kam.
Vorgehensweise
Winkler präsentiert eine lange Liste von mehr oder weniger schuldig gewordenen Männern (und wenigen Frauen), denen es besser oder schlechter gelang, die früheren Taten und oder Äußerungen geheim zu halten, oder die zumindest ihre Biographie soweit beschönigen können, daß sie wieder tragbar sind.
Autoritarismus, Antibolschewismus und Antisemitismus leben weiter fort und prägen Kurs und Klima des neuen Landes, das erst allmählich zu sich selbst und zu Willy Brandt findet.
Kritik
So wichtig es ist, die Fakten zu kennen und hinter manche aufgehübschte Biographiefassade zu blicken, so schwach ist der Text als Transformationsstudie. Der Autor nimmt eine dezidiert linke Perspektive ein, hält einen konsequent anklagenden Ton und liefert – nichts. Kaum Analysen, keine Alternativerzählungen, nur Empörung und Polemik. War man da nicht schon einmal weiter? Dieses Nachhutgefecht des inzwischen 62jährigen Autors ist irgendwie enttäuschend.
Es bleibt nämlich völlig offen, wie sich die Demokratie festigte, warum die Westintegration gelang und weshalb so ein Experiment wie die europäische Einigung überhaupt möglich war.
So reduziert sich die Leistung des Autors darauf, Entschuldigungsstrategien und Rechtfertigungsargumente als bloße Schutzbehauptungen zu enttarnen; sie belegen keine Reue, sondern sollen Karrierewege offenhalten und dem erfolgreichen Selbstbetrug der Täter und der Täuschung der anderen dienen. Es ist bedrückend, all diese Lügen und Selbsttäuschungen, die lauen Rechtfertigungsversuche und die kühnen Entschuldigungsstrategien zu lesen. Es ist die Stärke des Buches, dies in großer Dringlichkeit zu erzählen: Die alten Kameraden sitzen überall, in den Amtstuben, den Zeitungs- und Rundfunkredaktionen, sie drehen Filme und moderieren Sendungen, sie schreiben Drehbücher und werden Fernsehpolizisten, schreiben Weltbestseller und im Feuilleton, sie lehren an den Universitäten, sprechen Recht in den Gerichten und leisten als Ärzte und Wissenschaftler Vorzügliches.
Doch eine Antwort auf die Frage des Untertitels, nämlich „Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde“, die bekommt man durch die Lektüre des Buches nicht.
Unterste Schublade ist die vergleichende Erzählung von Adenauers achtzigstem und Hitlers fünfzigstem Geburtstag. Vom Gerechtigkeitssinn und der Noblesse seines vorgeblichen Idols Willy Brandt ist der Kampagnenjournalist Winkler hier meilenweit entfernt. Während er mit Schaum vorm Mund gegen den Kanzler wütet, dem er attestieren muß, kein Nationalsozialist gewesen zu sein, schreibt er auf der nächsten Seite sachlich bis verständnisvoll über die Journalisten, die nahtlos von Unterstützern des Endsiegs zu den Wächtern der neuen Demokratie geworden waren. Daß sie sich vielleicht aus Kompensationsgründen so ins Zeug warfen, kommt ihm kaum in den Sinn, während er an anderer Stelle immerhin ihren Wehrmachtsberichtston kritisiert hatte und kurz danach schildert, daß selbst beim Spiegel Altnazis schrieben und mit der aus anderen Altnazis bestehenden Organisation Gehlen Kontakt hielten. Schlimm, jaja, aber Adenauer. Noch schlimmer.
Natürlich stand die Kombination aus echtem Konservativismus, autoritären Zügen Adenauers und seinem zunehmendem Altersstarrsinn quer zum sich liberalisierenden Zeitgeist, zumal aus der Perspektive einer sich herausbildenden modernen Linken. Doch geht die hier vorliegende Diffamierung Winklers weit über sachlich begründete Kritik hinaus und holt – für Nachgeborene typisch – Kulturkämpfe nach, bei denen man natürlich auf der richtigen Seite gestanden hätte.
Finis
Dann endlich, nach dem Debakel des Alten um das Regierungsfernsehen und nach der Spiegelaffäre, der Machtwechsel: Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten. Unter tätiger Mithilfe der FDP, geführt von Walter Scheel, wie Strauß Oberleutnant der Wehrmacht, anders als dieser aber früher auch mal in der Partei.
Kritik, Protest, Brandsätze in Kaufhäusern – die neue Zeit zieht herauf. Doch dann springt Winkler wieder zurück in das Jahr 1950, um dem Bild des Autokraten Adenauer weitere Facetten hinzuzufügen. Für Winkler wurde die Chimäre der Wiedervereinigung rund um die Stalinnote auf dem Altar der von den Rechten betriebenen Aufrüstung geopfert – und dann muß er sich einen Absatz zur Aussöhnung mit Israel abpressen, die die gleichen Leute vorantreiben. Aber da FJS nur Waffen verkaufen will, macht für den Autor dann doch alles Sinn.
Mein Fazit
Das Buch bietet viele Informationen im Überblick, schwankt zwischen anekdotischem Erzählton und politischer Kampfschrift. Es gibt keine zufriedenstellende Antwort darauf, wie die alten Nazis nun das Gelingen des neuen Staates beförderten. Polemik statt Analyse – mir war das zuwenig bei so einem wichtigen Thema. Das geschlossene Weltbild des Autors folgt in gewisser Weise dem Muster „Alles Schlampen, außer Mutti!“. Sein Buch liefert dementsprechend auch keine neuen Erkenntnisse, es erspart dem Leser letztendlich nur die Durchsicht der NSdAP-Mitgliederkartei.