
Helen Simpson, Nächste Station | Foto: nw2019
Mit ihren neun gelungenen Kurzgeschichten präsentiert Helen Simpson eine gelungene Mischung aus Amüsement und Tiefgang. Nach jeder Geschichte kann man einen Moment oder auch länger innehalten, um über das Gelesene nachzudenken.
Form
Die Erzähltechnik entspricht den allgemeinen Anforderungen des Genres, ohne Exposition befindet man sich als Leser in einer komprimierten Situation, deren Komplexität oft nur angedeutet wird und durch Hinzudenken ergänzt werden muß. Der offene Schluß der Texte bietet den Anlass zum Weiterdenken.
Innerhalb dieses Gesamtrahmens präsentiert Simpson jedoch sehr abwechslungsreiche Geschichten und Szenarien, etwa entlang der Stationen bei einer U-Bahnfahrt oder der Blicke auf die Digitaluhr eines Weckers während einer schlaflos verbrachten Nacht. Das Gespräch zwischen den Teilnehmerinnen eines Literaturkreises oder zwischen Bettnachbarn im Krankenzimmer bildet ebenso den Rahmen wie die Überlegungen während des Kuchenbackens, die in ein Rezept eingefügt sind.
Dialoge, innere Monologe und kurze Beschreibungen wechseln sich ab, alle Texte sind von großer Lebendigkeit und lassen keine Langeweile aufkommen. Viele gut beobachtete Details strahlen mit großer Leuchtkraft aus den Texten heraus.
Inhalt
Die Kurzgeschichten sind allesamt nach Orten benannt, doch primär geht es um die Zeit, die sich verändert, die verstreicht, die Ungewisses mit sich bringt.
„Ich sage mir immer wieder, wir sind ungefähr im August“, erwiderte Mae versonnen. „Ganz am Ende des Sommers.“ (S. 124)
Die meisten Protagonist*innen kommen aus einer urbanen britischen Mittelschicht, sind zwischen vierzig und sechzig Jahre alt und reden dementsprechend über das Älterwerden, körperliche Veränderungen, nachlassende Fähigkeiten und so weiter. Sie blicken aber auch mit einer gewissen Verzweiflung auf die gegenüber ihrer Jugend so dramatisch veränderte Weltlage und denken über verlorengegangene Hoffnungen und Träume nach.
Es ist die Generation, der es noch besser ging als ihren Eltern, aber die sich über die Zukunft ihrer Kinder Gedanken machen müssen.
Plakativ kehrt Simpson in »Erewhon« die Geschlechterrollen um. Als Mann denke ich, „Naja, das hat doch schon etwas von Holzhammermethode,“ aber in der Deutlichkeit liegt eben auch die Kraft der Botschaft dieser Erzählung.
Ella sah sich heimlich im Internet Pornos an. Deshalb kam sie auch immer so spät ins Bett – „Hab nur schnell meine Mails gecheckt“. Sie wusste nicht, dass er es wusste, und er würde sie auch nicht darauf ansprechen. Aber er brauchte nur an ihren Laptop zu gehen, schon hatte er die Beweise – „Gefüllte Eier“, „Popp-Festival“. Alles mit diesen potenten, perfekten Männern. (S. 35)
Überhaupt steht es um das Verhältnis zwischen Männern und Frauen nicht zum besten – das wird in mehreren Erzählungen aus unterschiedlichen Perspektiven sehr deutlich. Die wechselseitigen Erwartungen an Beziehungen und Ehen sind nicht deckungsgleich, was natürlich auch gesellschaftlich und wirtschaftspolitisch determiniert ist.
Die letzte und gar nicht kurze Geschichte einer Reise nach Berlin spricht den Opern- und Wagnerfreund sowie den historisch Interessierten in mir gleich mehrfach an. Die Verflechtung von Dialog, innerem Monolog und der Bühnenhandlung von Wagners »Ring« sowie der ganz normale Wahnsinn in einer Paarbeziehung – das ist wirklich sehr lesenswert!
Autorin
Simpson wurde 1951 geboren und veröffentlichte eine Reihe von Kurzgeschichten, die auch schon mehrfach ausgezeichnet wurden. Das englischsprachige Feuilleton lobt ihre Werke sowohl in inhaltlicher als auch in stilistischer Hinsicht.
Meine Leseempfehlung
Ich bin, das muß ich einräumen, kein regelmäßiger Leser von Kurzgeschichten. Mir liegt die auserzählte Handlung, die umfangreiche Beschreibung und die Figurenentwicklung einer größeren Erzählung und eines Romans mehr. Gleichwohl lasse ich hin und wieder zu dieser kleinen Form verführen. Das mag an gelegentlich spärlicher Lesezeit liegen, die mit ihnen angemessen gefüllt werden kann, aber auch an einem gewissen Bedürfnis nach etwas neuem oder danach, neue Autoren kennenzulernen.
Hier ist das klassische Motivbündel zu nennen, bei dem der optische Eindruck wie stets nicht unterschätzt werden darf. Der an Piet Mondrian gemahnende Einband des handlichen Buches, das ich preisreduziert im modernen Antiquariat erwarb, spielte eine Rolle, ebenso meine Suche nach einer Autorin, von der ich noch nicht gehört hatte.
Für einen Zufallsfund ist das Buch ganz klar ein guter Kauf. Deswegen gibt es eine eindeutige Leseempfehlung.
Helen Simpson, Nächste Station. Erzählungen, 2015 (dt. 2018 aus dem Englischen von Michaela Grabinger), Zürich/Berlin: Kein & Aber, 206 Seiten