Tschechow (1860-1904) gehört zu den wichtigen russischen Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Obwohl sein über Werk über sechshundert Texte umfaßt, ist er im Westen in erster Linie als Dramatiker bekannt. Dabei ist auch sein erzählerisches Werk eine Lektüre wert, vermittelt es doch in der kleinen Form Einblicke in das Rußland seiner Zeit jenseits der großen Städte und der Hof- und Adelswelt. Der vorliegende, im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienene Band »Die Fürstin« umfaßt vierzehn Erzählungen, die Tschechow in den Jahren 1887 bis 1891 schrieb.

Anton Tschechow | Foto: nw2017
Die Texte behandeln eine große Spannbreite von Themen: Adoleszenz, Naturschilderungen, zerrüttete Familienverhältnisse oder Varieté mit Tieren, um nur einige zu nennen. Die gelegentlich recht kurzen Erzählungen sind dialogreich und bringen uns die handelnden Personen sehr nahe.
Ein Vergleich mit der deutschen Literatur zeigt, daß auch dort – gleichsam von Stifter bis Storm – der dörfliche und kleinstädtische Rahmen gesucht wurde – noch die Buddenbrooks sind nicht unerheblich von der Enge Lübecks geprägt, wenn auch hier eine Oberschicht mit Kontakten zur Welt im Mittelpunkt steht. Eine explizit sozialkritische Analyse findet sich in beiden Fällen selten. Das jeweils Fortschrittliche bestand zunächst darin, die Unterschichten überhaupt näher in den Blick zu nehmen und das soziale Panorama auf diese Weise auszudifferenzieren. Bis zu einer gesamtgesellschaftlichen, Politik und Wirtschaft betreffenden Veränderung war es für die Literatur, insbesondere die des breiten Erfolgs, noch ein weiter Weg. Auch Tschechow leuchtet nur ein paar Winkel aus, er zündet noch keine Paläste oder Kirchen an.
Der Wodka ist dazu da, daß man ihn trinkt, der Stör, daß man ihn ißt, die Frauen, um zu ihnen zu gehen, und der Schnee, um auf ihm zu laufen. (S. 134f.)
Was hat mir besonders gefallen?
Packend geschrieben ist die Erzählung »Der Anfall«, in der Tschechow das Verhalten junger Männer charakterisiert und nach Anstand und Moral fragt. Eine überraschende Wendung scheint die titelgebende Erzählung »Die Fürstin« zu nehmen, doch es kommt anders, als man zunächst denkt.
»Eine langweilige Geschichte« ist natürlich nicht langweilig: „Mein Tag beginnt mit dem Eintreten meiner Frau.“ (S. 182) Es folgt die Schilderung eines fad-unerquicklichen morgendlichen Gesprächs, das der Erzähler so beschließt: „So beginnt mein Tag. Die Fortsetzung sieht nicht besser aus.“ (S. 184). Vom häuslichen Umfeld begibt sich der Erzähler – Medizinprofessor an einer russischen Universität – an seine berufliche Wirkungsstätte. Hier werden Typen geschildert, die der Professor in- und auswendig kennt: ein Universitätsdiener und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, letzter fleißig, aber von beschränktem Horizont und uninspiriert.
Ich gäbe viel dafür, einmal zusehen zu können, wie dieser Zwieback mit seiner Frau schläft. (S. 190)
Mit den häuslichen Sorgen und und dem arbeitsweltlichen Allerlei kontrastiert die Vorlesung – sie zu halten und diesen Vorgang zu schildern, entfacht des Erzählers Sinne. Aber nur in der Vergangenheit, denn aktuell liegt ein Schaden über seinem Leben, der ihn bremst und hemmt. Wie der Erzähler über Frauen und ihren Verstand denkt, ist heute längst nicht mehr politisch korrekt.
Ich habe Schüler und Hörer, aber keine Helfer und Erben. (S. 227)
Das beständige Reflektieren über die eigene Situation, die schleichenden Veränderungen, die sich überstürzenden Entwicklungen machen diese Erzählung zu einem sehr dichten und fesselnden Text.
Ich lese dieses Telegramm und erschrecke einen Moment. Nicht über den Schritt von […], sondern über die Gleichgültigkeit, mit der ich die Nachricht […] aufnehme. Man sagt, die Philosophen und die wirklich Weisen seien gleichmütig. Falsch, der Gleichmut ist eine Lähmung der Seele, ist der vorzeitige Tod. (S. 205)
Fazit
Tschechows Stärke in diesen Erzählungen ist die Charakterisierung von Personen und das Einfangen von Stimmungen; hingegen wird die Handlung oft nur skizziert. Naturschilderungen lassen die Menschen klein und unscheinbar erscheinen, den Gewalten ausgeliefert. Die Perspektivlosigkeit und gesellschaftliche Immobilität, das Fehlen von persönlichem Glück lassen manche Texte sehr trostlos klingen.
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