Addio del passato.

Roman

Le 12 du mois de mars 1847, je lus, dans la rue Laffitte, une grande affiche jaune annonçant une vente des meubles et de riches objets de curiosité. Cette vente avait lieu après décès. L’affiche ne nommait pas la personne morte, mais la vente devait se faire rue d’Antin, n° 9, le 16, de midi à cinq heures. (S. 15f.)

So setzt der erzählerische Teil von »La Dame aux Camélias« ein, dem Roman von Alexandre Dumas d.J. Mein Taschenbuch wurde 1983 gedruckt, erschien bei Gallimard, und ich kaufte es am 21. Mai 1984 in Paris.

Die Kameliendame, Marguerite Gautier, ist tot, und der Haushalt soll zur Deckung von Verbindlichkeiten versteigert werden. Als der Erzähler das verschwenderisch ausgestattete Appartement besucht, erfährt er den Namen der Verstorbenen, die er als Person des öffentlichen Klatsches und von Promenaden und Ausfahrten sowie gesellschaftlichen Ereignissen her –aber nicht persönlich – gekannt hatte. Einige Tage später, am 16. März, ersteigert er ein Buch, in dem, so der Auktionator, „etwas auf der ersten Seite geschrieben steht“, wobei er einen Mitbieter aus dem Feld schlägt. Das Geschriebene entpuppt sich als eine Widmung eines gewissen Armand Duval.

Die Versteigerung erbringt übrigens einen Erlös von hundertfünfzigtausend Francs, mit dem die Schulden beglichen werden können und aus dem sogar noch ein Erbe an die jüngere Schwester Marguerites gezahlt werden kann. Ein paar Tage später besucht ein Mann den Erzähler, es ist natürlich kein anderer als Armand Duval, der übertrumpfte Mitbieter:

M. Duval, fortement ému, ne fit aucun effort pour cacher son émotion, et ce fut des larmes dans les yeux et un tremblement dans la voix qu’il me dit:

«Monsieur, vous excuserez, je vous prie, ma visite et mon costume; mais outre qu’entre jeunes gens on ne se gêne pas beaucoup, je désirais tant vous voir aujourd’hui, que je n’ai pas même pris le temps de descendre à l’hotel où j’ai envoyé mes malles et je suis accouru chez vous craignant encore, quoiqu’il soit de bonne heure, de ne pas vous rencontrer.» (S. 43)

Nach einigen Begebenheiten freunden sich die beiden Männer an und Armand erzählt ihm schließlich die Geschichte; „vous en ferez un livre auquel on ne croira pas, mais qui sera peut-être intéressant à faire.“ (S. 74)

Drama, Oper und Film

Die Geschichte trägt autobiographische Züge, denn Dumas hatte sich als Zwanzigjähriger in die stadtbekannte Kokotte Marie Duplessis (eigentlich: Alphonsine Plessis, s. Foto am Anfang des Beitrages) verliebt. Der im Jahr 1848 erschienene Roman war so erfolgreich, daß Dumas ihn im Jahr 1852 zu einem Theaterstück umarbeitete, das wiederum Giuseppe Verdi zu einer Oper animierte. 1853 erschien, komponiert auf ein italienischsprachiges Libretto von Francesco Maria Piave, die Oper La Traviata, deren Heldin nun Violetta Valéry heißt; aus Armand Duval wird Alfredo Germont.

Die Oper setzt also einen zeitgenössischen Text, gerade einmal fünf Jahre alt und soeben erfolgreich zur Bühnenreife gebracht, um. Sie bringt einen Stoff der damaligen Gegenwart auf die Bühne, die Helden sind Bürgerliche, die titelgebende Hauptfigur gar die Halbweltdame. Die Handlung galt als unmoralisch, in ihrer Konsequenz die gesellschaftlich-sittliche Ordnung bedrohend. Ein Vergleich der Texte ergebe, so las ich einmal, daß die Heldin vom Buch über das Theaterstück bis hin zur Oper ihrer Komplexität entkleidet und zunehmend idealisiert werde.

Das Theaterstück hielt sich im 19. Jahrhundert erfolgreich neben der Oper auf den Bühnen; ab 1880 spielte Sarah Bernhardt die Rolle der Kameliendame im Theater, im Jahre 1911 spielte sie in einer legendären Stummfilmadaption. Das Kino legte 1936 mit dem Tonfilm „Die Kameliendame“ nach, in den Hauptrollen Greta Garbo und Robert Taylor.

Damit hatte die Figur der Kameliendame ein neues, ikonographisches Gesicht erhalten. Während die Bernhardt gleichsam noch die Aura der Zeitgenossenschaft vermitteln konnte, gibt die Garbo eine grandiose Anverwandlung eines historischen Stoffes und stellt die Figur in eine Reihe mit Königin Christine und der Gräfin Walewska.

Die Oper ihrerseits hatte einen schlechten Start: Die Premiere am 6. März 1853 im Teatro La Fenice galt als Fehlschlag. Produziert in den späten Galeerenjahren Verdis (Vertrag im Mai 1852, Premiere im darauffolgenden März), weist die Oper Ambivalenzen auf. Die Figur der Violetta dominiert die Handlung, Vater und Sohn gewinnen vorwiegend aus den Begegnungen mit ihr musikalisches Format. Drei Personen lassen weniger Konstellationen zu als vier oder gar sechs; die sich hieraus ergebende Intimität kontrastiert scharf mit den öffentlichen Szenen der Festlichkeiten und des Chores. Verdi selbst schätzte das Werk sehr, hielt es jedoch nicht für sein bestes. Julian Budden, der es auch in der einbändigen Fassung seines Verdi-Buches (1985, dt. 1987) ausführlich analysiert, faßt zusammen: „Heute ist La traviata die beliebteste Verdi-Oper. Dabei ist sie nicht die vollkommenste.“ (S. 241)

Zusammen mit Rigoletto und Il Trovatore bildet La Traviata das Rückgrat des italienisch orientierten Opernbetriebs, weltweit ist sie die am häufigsten aufgeführte Oper; in Deutschland hält Mozarts Zauberflöte diese Stellung seit Jahren unangefochten, Verdis Oper lag hierzulande 2013/14 hinter Hänsel und Gretel (Humperdinck) und La Bohème (Puccini) auf Platz vier. Die Spitzenstellung hat oftmals den Preis der lieb- und gedankenlosen Präsentation; wenig überzeugende Regie, Kostümschinken oder nicht weiterführende Verfremdung treffen nicht selten auf letztendlich mäßige Gesangleistungen.

Gesang

Gesangsgeschichtlich ist anzumerken, daß die Rolle rasch an die Soprani leggieri fiel und später, nach dem Aufkommen des Verismo, in einer unangemessenen Vergröberung dargeboten wurde. Die australische Primadonna Nellie Melba (1861-1931) hatte die Violetta 1887 erstmals auf der Bühne gesungen, ihre Studioversion von »Ah, fors’è lui« aus dem Jahre 1907 ist erhalten.

Man muß eine solche Aufnahme „perspektivisch“ hören (Jürgen Kesting), die Klangminderung der Aufnahmetechnik und das Alter der Sängerin bedenken, die seit zwanzig Jahren auf der Bühne stand, um ihre Vorzüge zu entdecken. Im Fall von Nellie Melba also etwa die Leuchtkraft und Reinheit des Tons und die beherrschte Intensität der Stimme sowie die vielgepriesene Mühelosigkeit der Tonproduktion. Melba läßt die Töne nicht in der Maske entstehen, wie ihre Rivalin Luisa Tetrazzini und wie es erst seit Maria Callas allgemein üblich ist. Melba unterläuft dabei freilich nicht der Fehler der kehligen Tonbildung, den viele ihrer Nachfolgerinnen begingen.

Renata Tebaldi hüllte die große Arie im ersten Akt (zumindest in Teilen) in den Samt ihrer Stimme, aber blieb die stimmliche Darstellung der Gedanken- und Gefühlswelt einer zweifelnden Frau ebenso schuldig wie die korrekte Ausführung der musikalischen Verzierungen. Kesting stellt in seiner legendären Radiosendung eine ihrer Aufnahmen einer Version von Maria Callas – beide live gesungen – entgegen. Die Unterschiede sind frappierend, ohne daß damit andere Vorzüge und Verdienste der Sängerin Tebaldi in und für andere Rollen geschmälert würden.

Mailand 1955

Mit der Produktion an der Mailänder Scala von 1955 – Dirigent: Carlo Maria Giulini, Regie: Luchino Visconti, Bühnenbild: Lila de Nobili – wurden neue Maßstäbe gesetzt. Neben Maria Callas sangen Giuseppe di Stefano (nur in der Premiere, danach Giacinto Prandelli) und Ettore Bastianini Germont Sohn und Vater.

Die Fotos, der existierende Mitschnitt und die Berichte von Beteiligten und Besuchern ließen es zu, daß ein flüchtiger Theaterabend zu einem ästhetischen Monument werden konnte. Kesting fügt die Quellen in seinem Buch über Maria Callas zu einer packenden Darstellung zusammen (S. 78-84, S. 163ff. und noch einmal auf 356f.). Kesting fragt an anderer Stelle, ob früher sorgloser Oper gemacht worden sei, um seine rhetorische Frage unausgesprochen zu verneinen. Die hier in Rede stehende Produktion ist ein Beweis für die künstlerischen Ambitionen eines Opernhauses, das in dieser Saison 21 Werke, davon 18 in neuen Produktionen spielte. Tempi passati!

Ballett und Opernfilm

Der Stoff war und ist von unverminderter Anziehungskraft. 1978 schuf John Neumeier in Stuttgart das Ballett »Die Kameliendame« zu Musik von Frédéric Chopin, verschränkt mit der Handlung von Manon Lescaut. Seine Premierentänzer waren Marcia Haydée (Marguerite Gautier), Egon Madsen (Armand Duval), Birgit Keil (Manon Lescaut) und Richard Cragun (Des Grieux). 1981 hatte das Ballett dann an der Hamburger Staatsoper Premiere und ging seither um die Welt. Später entstand auf Grundlage der Produktion ein Film (1987). Das Ballett wird bis heute aufgeführt und stellt eine vollauf angemessene Anverwandlung des Stoffes durch ein modernes Handlungsballett dar.

Einen Opernfilm drehte im Jahr 1982 Franco Zeffirelli. Teresa Stratas, Placido Domingo und Cornell MacNeill sangen und spielten die Hauptpartien; unter der Leitung von James Levine spielte das Orchester der Metropolitan Opera. Zeffirelli nimmt die Vorbesichtigung der Versteigerung als Ausgangspunkt und blendet dann zurück in die üppig ausstaffierte Opernhandlung. Stratas singt eine sehnige, keine exuberante Violetta. Aber es gelingt dem Regisseur, sie optisch fast in Marie Duplessis zu verwandeln.

 

Schluß

Eine Geschichte über die Unmöglichkeit von Liebe in den epochentypischen Nischen für Lust und Galanterie, gewürzt mit Tragik und Krankheit. Seit 1848 regt sie zur Auseinandersetzung an, zu Transformation und Neuinterpretation. Besonders wirkmächtig in dieser Hinsicht ist die Oper Verdis, die Bilder, Tondokumente und Mythen hervorgebracht hat. Umso schwerer ist sie angesichts der Aufführungsgeschichte auf die Bühne zu bringen. Doch dort gerät jede Aufführung zur Neuschöpfung, die dann zunächst einmal im handwerklichen Sinne von Musikern und Sängern hergestellt werden muß. Dem gebührt jeden Abend aufs Neue Anerkennung, auch wenn keine Jahrhundertstimmen erklingen.

Die Vergangenheit ist somit Überlieferung, in Bild und Klang gegenwärtig. Sie ist Gegenstand der Auseinandersetzung und muß produktiv überwunden werden, um Raum für die Gegenwart zu haben. Addio del passato.

 

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2 Antworten zu Addio del passato.

  1. mickzwo schreibt:

    Diesen Artikel habe ich mir als Lesezeichen gesetzt, da ich ihn in aller Ruhe nochmal lesen muß.
    Danke.

  2. Pingback: Beiträge des Jahres 2016 | notizhefte

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