Die Romane des Literaturnobelpreisträgers von 2014 haben es mir bekanntlich angetan; sowohl vom Thema als auch vom Stil her finde ich ihre Lektüre angenehm. Ihr geringer Umfang erlaubt es mir, sie auch in die Beschäftigung mit dicken Wälzern einzuschalten und auf diese Weise etwas vielfältigere Leseeindrücke zu sammeln. »Im Café der verlorenen Jugend« erschien im Jahr 2007, wurde von Elisabeth Edl übersetzt und kam 2012 dann erstmals auf Deutsch heraus. Die rund 150 Seiten las ich am 31. Mai 2015 auf einer Zugfahrt.
Worum geht es?
Eine junge Frau kommt eines Tages erstmals in in Pariser Café, erscheint dann regelmäßig dort, bis sie irgendwann nicht mehr wiederkehrt. Diese Geschichte wird aus der Perspektive verschiedener Beteiligter und aus unterschiedlichem zeitlichen Abstand erzählt. Eine Lesart lautet: Eine junge Frau verläßt ihre beiläufig geschlossene Ehe; ein Detektiv wird unspezifisch von ihrem Ehemann mit Nachforschungen beauftragt. So kommt er ins Condé, erfährt soviel über Louki, daß er irgendwann mit ihr paktiert und sie nicht zurückzubringen versucht.
Was fiel mir auf?
Bei aller Unspektakularität der Handlung empfand ich eine große Sogwirkung. Die locker erzählte Handlung, oft nur hingetupfte Beschreibungen und eine gewisse Lakonie evozieren bei mir eine Fülle von Parisbildern. Modiano trifft einen Nerv bei mir, fesselt mich. Trotz des begrenzten Umfangs entsteht ein kompletter Eindruck von der Geschichte und ihren Personen. Das Ungefähre gehört dazu, schafft die charakteristische Atmosphäre.
[Die Stammgäste] waren zwischen neunzehn und fünfundzwanzig, mit Ausnahme von ein paar Gästen wie Babilée, Adamo oder Doktor Vala, die allmählich auf die Fünfzig zugingen, doch ihr Alter vergaß man leicht. Babilée, Adamo und Doktor Vala waren ihrer Jugend treu und dem, was man mit einem melodiösen und altmodischen schönen Namen als »Boheme« bezeichnen könnte. Ich suchte im Wörterbuch nach »Bohemien«: Person, die ein unstetes Leben führt, ohne Regeln, ohne Sorge ums Morgen. Das ist eine Definition, die auf die Besucher und Besucherinnen des Condé genau passte (S. 12f.)
Ein Gast hatte mehrere Jahre eine Liste geführt, an welchen Tagen und zu welcher Uhrzeit die Gäste in das Café Condé kamen. Diese spielt für die Rekonstruktion des Geschehens eine gewisse Rolle. Zweck der Liste ist es, Fixpunkte im Mahlstrom der Großstadt festzuhalten und die flüchtigen Existenzen von Menschen dem Vergessen zu entreißen. Diese Funktion kann die Liste, die neben Datum und Uhrzeit nur den Vornamen, der oft ein Spitzname ist, enthält, naturgemäß kaum erfüllen. Und so dient sie nur vage als Erinnerungsstütze, erlaubt eher Spekulationen als präzise Recherche. Es geht natürlich um Erinnerung an ein kurze Zeit damals im Café Condé, solange Louki, die weibliche Hauptfigur dort verkehrte. Dieser Erinnerung wird von einem Studenten, einem Privatdetektiv, von Louki selbst und von ihrem Freund Roland nachgegangen. Was ist eigentlich genau passiert damals? Wie fing alles an und wie hörte es auf? Aber auch: Was machte das Leben damals aus?
Le Condé war für mich ein Hort gegen alles, was ich auf mich zukommen sah vom Grau-in-Grau des Lebens. Einen Teil meiner selbst – den besten – würde ich dort eines Tages zurücklassen müssen. (S. 29)
Das Buch spielt mit der Frage, was Wahrheit und was Erfindung ist: Wie wird Identität erkenn- und faßbar, was ist bloße Persona? Unter welchen Voraussetzungen sind intensive Erfahrungen möglich? Für Louki ist das Ausreißen von klein auf die ultimative Erfahrung, auch später hält sie es für besser als Drogen. Wer ausreißt, kann sich neu erfinden. Das Wort „Verschollenheitserklärung“ hatte Louki und Roland einst begeistert, erschien es ihnen doch als die amtliche Freiheitsbeglaubigung. Wo Identitäten ungewiß sind, werden auch Wiederbegegnungen möglicherweise nur imaginiert; zwischen Verschleierung und Offenbarung ist es oft nur ein schmaler Grat. Die Gäste des Café Condé bilden deswegen die verlorene Jugend, weil sie diese Ungewißheit nicht auflösen, sondern im Gegenteil zu erhalten suchen.
Mein Fazit:
Modiano stellt hier wie in den anderen Romanen, die ich bereits gelesen habe, seine Figuren in ein Gebiet zwischen Wohnung, Café und Arbeitsplatz, wobei der Arbeitsplatz eher skurril gezeichnet wird und die Tätigkeit oft unklar bleibt. Die Figuren sind durch Ehe oder sonstige Beziehungen miteinander in Nähe und Distanz verbunden. Sie waren jung. Eine oder mehrere Personen schauen zurück, versuchen sich zu erinnern oder Gesprächspartner zu finden, die sich ihrerseits erinnern können. Nostalgisch und mit gelegentlichem, feinem Humor zeichnet Modiano ein sanftes Bild jenes Gestern, das einst Gegenwart war, das in der Erinnerung nah und fern zugleich ist.
Danke. Das macht Lust auf mehr Lesen und da der Lesesommer ganz sicher schon im Beginn ist. Kommt es auf den Büchertisch.
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