Ist das die große Erzählung vom »Verfall einer Familie«? Ein Kain-und-Abel-Roman? Auf Seite 181 werden diese beiden Namen tatsächlich genannt. Ein Roman einer Kindheit in Afrika? Oder ein Zeugnis dafür, daß »The White Man’s Burden« vergeblich geschultert wurde? Eine Coming-off-age-Geschichte? Oder alles in einem?
Obioma, Jahrgang 1986, legte seinen Debütroman unter dem Titel »The Fishermen« 2015 vor, praktisch zeitgleich mit weiteren Übersetzungen erschien die deutsche Version (Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner) im Aufbau Verlag, 306 Seiten. Von dort habe ich auch freundlicherweise ein Rezensionsexemplar erhalten.
Benjamin, einer von sechs Brüdern – eine Schwester gibt es auch noch –, erzählt aus seiner Kindheit, die durch den arbeitsbedingten Wegzug des Vaters verändert wurde. Die christliche Mittelschichtfamilie in Nigeria führte ein geordnetes Leben, das sich durch die beruflich bedingte Abwesenheit des Vaters wandelt: Die Söhne erkunden auf eigene Faust ihre Umwelt, treten in Kontakt mit anderen Kindern, sammeln Erfahrungen, tun Verbotenes.
Als Leser fragt man sich natürlich sofort, wie der Autor vorgehen wird. Wird er, im Westen sozialisiert, sich in die Tradition der Négritude nach Sengohr stellen, panafrikanisch argumentieren oder eher eine postkoloniale Sichtweise einnehmen? Der Text ist nicht dezidiert programmatisch, nimmt auch keine kulturelle Selbstbehauptung vor, vielmehr läßt sich in der Erzählweise mit ihrer Fokussierung auf den mythischen Fluß, dem Vergleich von Menschen mit Tieren, um ihre Charaktereigenschaften zu beschreiben, der Kontrastierung von Dingen, die auf Englisch und solchen, die auf Ibo gesagt werden, der Archaik in den Mann-Frau- und Eltern-Kind-Beziehungen ein Blick auf das Andere, wenn auch im Eigenen, sehen.
Tobias Döring in der FAZ bewertet das Buch denn auch eher kritisch, erkennt eine „Selbstexotisierung“ und Stereotypisierung, die durch den deutschen Titel »Der dunkle Fluss« noch hervorgehoben würden. Felix Stephan in der Süddeutschen stellt fest: „Es geht um ein zutiefst europäisches Thema: den Kampf des Menschen mit der Moderne,“ bemerkt aber auch einen mythischen Resonanzraum. Zwar läßt auch Stephan in seiner Rezension die Exotisierung des Texts anklingen, ist aber dennoch begeistert: Die Doppelung von Fischer und Fisch, das eine sein zu wollen, ohne dem anderen entkommen zu können – das sei „gespenstisch souverän, ein kunstvoll ausgeführter Existenzialismus“.
Anders – oder auch nicht? – das Fazit von Gregor Dotzauer im Tagesspiegel:
In seiner starken Bildhaftigkeit besitzt er etwas Afrikanisches, das zugleich auf die Überwindung der Tradition angelegt ist: Obioma will seiner Kultur jeden Rest magischen Denkens austreiben, während im Westen die rein instrumentelle Vernunft nicht nur angesichts der Dialektik der Aufklärung schon wieder in Misskredit geraten ist. Eben dieses Anliegen sollte Obioma vor dem Vorwurf der literarischen Selbstexotisierung schützen, den der Anglist Tobias Döring kürzlich in der „FAZ“ erhob. Es ist wohl eher so, dass man das Archaische, dass sich dieser Roman vornimmt, erst einmal aushalten muss – und auch seinen zuweilen archaisierenden Zugriff, der sich nicht zuletzt aus der sich in ein kindliches Erleben einfühlenden Erzählperspektive ergibt. Wer das aber tut, erfährt etwas von einer befremdlichen Mentalität, die einem Obioma packend näherbringt.
Inhaltlich wird durchaus einiges geboten: ein weissagender Verrückter, vor dem keine Frau sicher ist, ob lebendig, tot oder Madonnenstatue. Es gibt bedrohliche Prophezeiungen, verbotene Abenteuer, Familiendramen, eine realistische Darstellung von Armut und Dreck, Schläge, Tötung, Selbsttötung, naturreligiöse Überzeugungen, und so weiter und so fort. Ziemlich viel los los, erzählt aus der Perspektive des drittältesten Sohnes, dessen Ausdrucksweise oft gut getroffen wird, aber manchmal scheint der erwachsene Autor doch deutlich durch.
Die Geschichte mündet dann in einen Rachefeldzug von Obembe gegen den verrückten Abulu, dessen Prophezeiung der Ausgangspunkt für den Tod der beiden großen Brüder gewesen war. Benjamin schließt sich nur zögernd an und hadert deswegen mit sich, ist aber auch froh, als der erste Anschlag mißlingt. Ein weiterer, den Obembe alleine unternimmt, scheitert ebenfalls. Später unternehmen die beiden gemeinsam einen neuen Versuch. Dessen Ausgang bestimmt den spannenden Schluß des Buches.
Keine schlechte Geschichte, wie ich finde. Und eine Moral hat sie ja schließlich auch. Diese ist freilich nicht recht eindeutig. Positiv verstanden, könnte sie etwa lauten, daß Familien zusammenhalten müssen. Nüchterner im Ergebnis wäre die Feststellung:
Doch mit des Geschickes Mächten
ist kein ew’ger Bund zu flechten,
und das Unglück schreitet schnell.
Die Sprache hat mich nicht durchgängig überzeugt. Manche Formulierungen sind für meine Ohren schief, etwa: „Die Sonne brannte vom Himmel und zwang die Bäume, ihre schattigen Dächer auszubreiten.“ (S. 123) Anderes klingt fatal: „Die Menschen waren hier wie die Tauben, passive Geschöpfe, die träge auf Markt- oder Spielplätzen herumwatschelten, als warteten sie auf ein Gerücht oder eine Neuigkeit, und sich versammelten, wo immer eine Handvoll Körner ausgestreut wurde.“ (S. 178) Was für ein Afrikanerbild ist das denn bitte – noch dazu aus dem Munde eines heranwachsenden Nigerianers?
Tatsächlich ist etwas zu oft von Tigern die Rede. Auf S. 42 haben Wut und Zorn tiefe Falten im Gesicht des Vaters hinterlassen, die sich dann wieder glätten, aber auf S. 179 sieht Benjamin zum ersten Mal Falten in seinem Gesicht. Etwas unvermittelt erschallt auf S. 275 das erste Mal der Ruf des Muezzin.
Schön hingegen die Beschreibung von Obembe, dem dritten Sohn, als Vielleser und Wissensspeicher, der dem jüngeren Benjamin dann lehrreiche Geschichten erzählt. Und als der Vater nach allerlei Wirrnissen dann eine Buchhandlung eröffnet, bestellt er für den Anfang 4.000 Bücher.
Mein Fazit fällt erkennbar zurückhaltend aus. Der Text bedient Klischees, ohne sie für mich erkennbar zu brechen. Der in den deutschen Titel gehobene „dunkle Fluß“ kam mir gar nicht so wichtig vor, außer daß er als Naturmetapher fungiert. Die »Fishermen« des Originals betonen mehr das Handeln und Versagen der Brüder. „Kraft und Anmut“, so der Klappentext, kann man durchaus in Obiomas Sprache finden, aber ich würde das Buch nicht als Ganzes solcherart charakterisieren. Als „Spitzentitel im Frühjahr 2015“ (Verlagswerbung) mag ich das Buch nicht bezeichnen. Die Idee der Geschichte ist unbestreitbar gut und sie wird flüssig, auch spannend erzählt, doch bei mir mochte sich ein ungetrübtes Lesevergnügen nicht einstellen.
Eine interessante Besprechung. Und ein Satz hat mich zum Kichern gebracht.
Und welcher ist das? 🙂
„Tatsächlich ist etwas zu oft von Tigern die Rede.“ Da hat der Autor wohl eine Obsession. 😉
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