Von höchster Wichtigkeit für jede Dynastie: Der Thronfolger

Ludwig Winders Roman »Der Thronfolger« stammt aus dem Jahr 1937 und schildert die Zeit von 1855 bis 1914. Beim Beginn des Buches ist die spätere Mutter der Hauptperson ein zwölfjähriges Mädchen und ihr Vater König beider Sizilien. Auf Seite 128 ist Maria Annunciata lange tot und wir sind im Jahr 1889, als die Nachricht vom Tode des Kronprinzen Rudolf den Erzherzog Franz Ferdinand erreicht.
So meine erste kurze Notiz zu diesem Buch, einer Chronik des Habsburgerreiches aus einem ganz besonderen Blickwinkel.

Wir Heutigen sprechen vom Prince-Charles-Symptom, dem ewigen Thronfolger, der als Regent im Wartestand ergraut, während der Monarch oder die Monarchin eine sehr lange Zeit regiert. So ist es heute bei Elisabeth II. von England, so war es bei Königin Victoria und bei Kaiser Franz Joseph (und auch Wilhelm II. würde den Kronprinzen bei Fortdauer der Hohenzollernmonarchie lange haben warten lassen). Franz Joseph  saß vom 2. Dezember 1848 bis zum 21. November 1916, also fast 68 Jahre auf dem Thron. Sein eigener Sohn, Kronprinz Rudolf, starb 1889 – wohl von eigener Hand. Dann eröffnet sich für Franz Ferdinand, ältester Sohn aus der ersten Ehe eines jüngeren Bruders des Kaisers, die Perspektive, Thronfolger zu werden. Franz Ferdinand von Österreich-Este war damals gerade 26 Jahre alt geworden, mußte sich aber noch gedulden, denn sein Vater, Karl Ludwig, verzichtete nicht zu seinen Gunsten auf die Thronfolge. Daher kam die Reihe erst mit dessen Tod im Jahre 1896 an ihn.

Die von der Mutter geerbte Schwäche der Lungen beeinträchtigte seine Jugendjahre. Ausgedehnte Reisen in tropisches Klima während der 1890er Jahre führten zu seiner Genesung. Er entwickelte politische Reformvorstellungen, die sowohl die Struktur der Doppelmonarchie – durch eine Schwächung Ungarns und eine konstitutionelle Neuordnung des Balkans – betrafen als auch auf eine verbesserte Wehrkraft des Reiches zielten. Er lehnte eine aggressive Außenpolitik sowohl gegenüber Rußland als auch gegenüber Serbien ab.

Der Roman von Ludwig Winder behandelt die Zeit bis zum Tode des Kronprinzen Rudolf sehr knapp. Die Zwischenzeit bis zum Tode Karl Ludwigs erhält fast den gleichen Umfang, den in ihr ereignet sich entscheidendes. Franz Ferdinand schafft sich in Kolonist sein Refugium, unternimmt eine Weltreise, verliebt sich in die Gräfin Chotek und besiegt durch die Kombination von Willenskraft und Kuren die Lungenkrankheit.

In Franz Ferdinand erwacht während dieser Zwischenzeit immer stärker ein politisches Bewußtsein, er nimmt die Spannungen im Reich war – die Sonderstellung Ungarns ist ihm schon länger ein Dorn im Auge – und er möchte wie Harun al Raschid unerkannt im Reich umhergehen, um zu hören, was das Volk denkt. Ihn erfüllt die Ohnmacht, auf den Tod des Kaisers und des eigenen Vaters warten zu müssen, mit Wut. Als sich die Krankheit verschlimmert, beschließt er, sich auf eine Weltreise zu begeben, um Abstand zu gewinnen und im milden Klima Heilung zu finden. Die Sorglosigkeit der anderen Erzherzöge, die Gefügtheit der Welt, ihre scheinbare Unveränderlichkeit unter dem ewigen Regiment des Onkels – all das wird ihm unerträglich. Doch auch die Weltreise verschafft ihm jenseits des Jagens exotischer Tiere keine Befriedigung. Erst in Amerika, einem jungen, zukunftsorientierten Land, faßt er wieder Mut und macht Lebenspläne, entwickelt das Konzept der „Vereinigten Staaten von Österreich-Ungarn“.

Zurückgekehrt, verliebt er sich in die Gräfin Chotek, ein spätes Mädchen, langsam verblühend, ehrgeizig. Sie ist nach dem strengen Hausgesetz der Habsburger freilich nicht ebenbürtig, was auch Franz Ferdinand zunächst als naturgegeben hinnimmt und die Gräfin zwar ernsthaft liebt, aber nicht an eine Eheschließung denkt. Nach einem gesellschaftlichen Skandal steht er zur Gräfin, trotzt dem Kaiser die Eheschließung ab, freilich um den Preis einer nur morganatischen Ehe und des Erbverzichts für die aus dieser Ehe hervorgegangenen Kinder. Diese Zeremonie wird vom Hof, wo sich Franz Ferdinand viele Feinde gemacht hat, zu einer echten Demütigung gestaltet, die das Paar wutbebend durchsteht und die die beiden zusammenschweißt.

Beharrlich müht sich der Thronfolger, Unterstützer zu finden, Menschen in Militär, Kirche und Verwaltung, die die Zukunft des Reiches Mitgestaltung wollen und sich deswegen, kühl rechnend auf seine Seite stellen. Der Kaiser und sein „Mumienkabinett“ leisten hinhaltenden, aber zähen Widerstand. Während die soziale Frage nur selten erwähnt wird  (S. 387, 453) und für Franz Ferdinand offenbar keine Rolle spielt, ist ihm die Nationalitätenfrage sehr wichtig. Aber an der Dominanz der Österreicher und der deutschen Sprache in Militär und Verwaltung will er nicht rütteln.

Im Jahr 1914 dann sollen die Sommermanöver in Bosnien stattfinden und Franz Ferdinand will sie in Vertretung des Kaisers besichtigen. Das politische Klima gleicht einem Hexenkessel. Winder beschreibt die Vorbereitungen des Attentats auf serbischer und bosnischer Seite. Franz Ferdinand gilt hier als Exponent des künftigen Österreich, den es auszulöschen gelte.

Interessant ist die Schilderung der Gemütslage der Attentäter, ihrer inneren Konflikte und Zweifel, die Flucht nach vorne – ähnliches mag heute in vielen Köpfen vorgehen.

Franz Ferdinand und seine Frau fürchten die Reise, aber er will nicht als feige gelten. In seiner Not geht er sogar zum Kaiser und schützt gesundheitliche Probleme vor, damit dieser ihm die Entscheidung offiziell abnimmt. Doch der begreift und sagt, da könne er nicht raten, das solle der Thronfolger selbst entscheiden.

Schließlich kommt eine verklausulierte Warnung nach Wien, die serbische Regierung, der von den Russen bedeutet worden war, sie zwar unterstützen zu wollen, aber lieber später, weist auf das Attentat hin, um eine Eskalation zu vermeiden. Doch im Wiener Doppelregiment, in dem sich der Thronfolger viele Feinde gemacht hat, geht die Warnung unter und wird nicht ernst genommen.

Unmittelbar vor der Fahrt, empfängt Franz Ferdinand den deutschen Kaiser auf seinem Gut, man geht gemeinsam auf die Jagd und der Thronfolger empfindet des Kaisers Vielweiberei als Ansporn – und den Kaiser persönlich anstrengend. Er neidet ihm die Stellung, die eigentlich den Habsburgern zukomme und träumt davon, das heilige Römische Reich unter seiner Führung wiederzuerrichten.

Nach dem Attentat kommt es zu einem Hofbegräbnis Dritter Klasse, was den Mißmut des Adels hervorruft. Die Julikrise schrumpft zu einer halben Seite, am Ende unterschreibt Franz Josef, der doch ein Friedenskaiser hatte sein wollen, die Kriegserklärung.

Das Nachwort stellt uns den Autor des sehr lesenswerten Romans vor: Ludwig Winder war einer der wirkmächtigen Prager Journalisten. Ulrich Weinziel resümiert:

Kein Zweifel: »Der Thronfolger« verdient einen Ehrenplatz, heute mehr denn je. Und zwar gleich neben Joseph Roths »Radetzkymarsch«. Was bei Roth in Poesie und Melancholie des verklärenden, mondsilbrigen Abschiedslichts getaucht ist, wirkt hier lakonischer, lakonisch bis zum Lapidaren, hart und prosaisch. Der eine schwelgte in Trauer um das Verlorene, der andere zeigt, warum es verlorenging, verlorengehen mußte. Denn Ludwig Winder war ein Gerechter. Ein Gerechter unter den Schreibern.

Dem schließe ich mich an. Ein gutes, interessantes und wirklich lesenswertes Buch.

Aber es hat erstaunliche Leerstellen: Kunst, Literatur, Wiener Moderne – kein Wort dazu. Auch die verfassungspolitischen Fragen werden nur insoweit erwogen, als Franz Ferdinand eine absolute Herrschaft möglich sein soll, um den Glanz wiederzuerlangen, der dem haus Habsburg gebührt. Auch mit diesem neuen Kaiser hätte das Vielvölkerreich wohl keine dauerhafte Zukunft gehabt.

 

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