Ich kenne den Autor dieser einen Zeitraum von drei Jahren (Mai 2008-Mai 2011) umfassenden Notizen nur als Person des öffentlichen Lebens, mal ist er im Fernsehen zu sehen, mal steht sein Name über einem Zeitungsartikel oder auf einem in rascher Folge erscheinenden Bücher im Buchladen. Sloterdijk erschien mir bisher als umtriebiger und produktiver Autor, der in der Zunft kritisch beäugt wird.
Nach der Lektüre seiner Notizen sehe ich mich in dieser Einschätzung bestätigt, habe aber durchaus auch den Wunsch, eines seiner zahlreichen Bücher zu lesen. Vielleicht fange ich mit „Falls Europa erwacht“ an und schaue, was ich von diesem 1994 erschienenen Text halte.
Denn die Tagebücher sind gut, oft eindringlich geschrieben, reich an Informationen und Stimmungen, ein wirkliches Zeitzeugnis. Sloterdijk reist viel, er liest viel, schreibt viel. Er fährt Fahrrad, beobachtet das eigene Altern, analysiert allgemeine Trends und trifft Freunde. Er beklagt den verwaltungsgeprägten Ordinarienalltag und findet deutliche Worte für die unternehmerisch geführte Universität der Gegenwart.
Sloterdijk ist eitel. Er verzeichnet skrupulös das Erscheinen der eigenen Bücher, jede Neuauflage und Übersetzung, beklagt deren gelegentliche Verzögerung, ärgert sich über erfolgende und über ausbleibende Reaktionen gleichermaßen. Er schildert Podien und Rednertribünen, auf denen er gesessen oder gestanden hat, spürt den Wirkungen ins Publikum nach und hadert mit den Programmverantwortlichen des deutschen Fernsehens wegen der späten Sendeplätze. Stanford verweigert ihm einen Flug in der Business Class, es sei denn, er bringe ein ärztliches Attest bei, daß ihm die erforderliche Gebrechlichkeit bescheinige, was widerum er empört zurückweist. Dies ist mal amüsant, mal enervierend, wie die folgende Stelle zeigt:
„Aus Offenburg ruft abends Peter Weibel an, um Glückwünsche zum 62. Geburtstag zu übermitteln. Er gibt den Hörer weiter an eine dort versammelte Gesellschaft. Fast ungläubig höre ich die Grüße von Ulla Berkéwicz, Raimund Fellinger, Hubert Burda, Prinz Max von Baden und Peter Handke.“ (S. 232)
Schön ist es, Sloterdijk bei der Lektüre der Tagebücher von Fritz J. Raddatz über die Schulter zu schauen. Unter dem 18. Dezember 2010 widmet er ihm etwas mehr als zwei ganze Druckseiten – vergleichsweise viel!
„Nehme mir jetzt doch die vielgepriesenen Tagebücher von Fritz J. Raddatz vor, obschon ich dem Genre nicht über den Weg traue.“ (S. 527)
Sloterdijk muß nun das eigene Tagebuchführen abgrenzen, was er tut, indem er Defizite bei Raddatz benennt:
„Was Raddatz bietet, ist mittlere Anekdote, Literaturgossip, Alltagspsychologie des »schreibenden, intrigierenden, konvulsivischen Hundepacks«. Kaum Außenwelt, keine Maximen und Reflexionen oberhalb durchschnittlicher Selbst- und Fremdbespiegelung, wenig medidatives Anhalten, so gut wie keinerlei Naturbeobachtung, fast tausend Seiten ohne Baum und Strauch.“ (S. 528)
Man könnte entgegnen, daß es bei Sloterdijk keine Schnittblumen gibt und für den Welterklärer Gebrauchsgegenstände eben Gebrauchsgegenstände sind, deren Beschreibung oder Wertschätzung überflüssig ist. Aber Sloterdijk ist fair und ergänzt dreißg Seiten und vier Wochen später:
„Noch einmal Raddatz. […] Es ist im übrigen nicht richtig, daß Bäume und Sträucher in seinen Aufzeichnungen völlig fehlten. Da und dort taucht spät noch etwas Blühendes auf, zu dessen näheren Kennzeichnung dem Verfasser zumeist ein »herrlich« ausreicht. (S. 557)
Bei Sloterdijk gibt es auch Passagen zum Fall Guttenberg, zum Amtsantritt und den ersten Auftritten von Bundespräsident Wulff, zur Politik der USA und zum sogenannten Arabischen Frühling. Er ist sich bewußt, daß Tagebücher im Strom des Gleichzeitigen töricht fokussiert sein und daher belanglos wirken können.
Die Notizen Peter Sloterdijks sind insgesamt eine mal unterhaltende, mal lehrreiche, gelegentlich auch − vom Gestus her − ermüdend wiederholende Lektüre.
Seine selbstgerechte, eitle Haltung, die über die Jahre wuchs und wuchs, hat ihn mir als Autor entfremdet. Dennoch ziehe ich den Hut vor seiner Eloquenz und tierschürfenden Gedankenwut, ja eine intellektueller Denkwüterich ist er geworden. Begeistert kennengelernt hatte ich ihn in den 80igern als Autor der „Kritik der zynischen Vernunft“. Diese Zeitgeist-Analyse der Weimarer Republik war sehr erhellend und wichtigste Grundlage damals für meine Abschlussarbeit über Horváth. Vieles daraus liess sich selbstverständlich auch auf heute übertragen – doch eben heute meint bei mir ebenso die Zeit 1990 wie auch heute 2014, sprich es ist eine zeitlos Erkenntnis, die Sloterdijk vermittelt und die sich auf einen sehr kleinen Kreis frustrierter und gesellschaftlich distanzierter Intellektueller beschränkt. Literarisch lohnt sich Sloterdijk immer – wie auch Schopenhauer. Inhaltlich mag ich seinem ständigem kulturpessimistischem Lamentieren nicht mehr folgen. Man muss nur seine alten gesellschaftlichen Prophezeiungen lesen und es wird schnell deutlich, dass sie nur in neue Gewänder gepackte Klagen über eine wachsend infantile Gesellschaft sind, die schon die Altvorderen ins Horn bliesen.
Sehr lesenswert fand ich noch seine Preisrede über „Essayismus in unserer Zeit“. Da schreibt er zum Beispiel über Bücher: „Bücher – hat Jean Paul einmal bemerkt – sind dickere Briefe an Freunde. Ich habe, wissend und unwissend, mit dem epistolarischen Prinzip bisher hinreichend gute Erfahrung gemacht, habe die Scheidung der Freunde und Nicht-Freunde bis zu einem erfreulichem Grad der Deutlichkeit fortschreiten sehen und glaube auch jetzt noch daran, dass der Buchhandel für Leute wie mich die bessere Bundespost bleiben wird.“ In diesem einen Satz zeigen sich schon viele seiner positiven wie auch enervierenden Eigenarten.