Virginia Woolf, Orlando

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Foto: nw2016

Bislang hätte ich auf die Frage „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ geantwortet „Ich nicht, aber ich kann mir auch kein Urteil über sie erlauben.“ Nun habe ich zumindest eins ihrer Bücher gelesen, nämlich „Orlando“. Der Insel Verlag legte die Neuübersetzung von Melanie Walz im Jahr 2012 in einer handlichen Ausgabe vor.

Es handelt sich um eine furiose Geschichte, dessen Hauptfigur als Knabe vor der ersten Königin Elisabeth steht, von ihr gefördert wird und zum Manne reift, nach einem verzauberten Schlaf ohne zu altern weiterlebt und später für Charles I. als Gesandter nach Konstantinopel reist, dort erneut in einen verzauberten Schlaf fällt, zur Frau wird, sich Zigeunern anschließt, dann im achtzehnten Jahrhundert nach England zurückkehrt, im viktorianischen Zeitalter alle Zwänge und Beschränkungen durchleidet, die Frauen von Recht und Gesellschaft auferlegt werden und dann nach weiteren Wendungen und Verwicklungen im Jahr 1928, der Entstehungszeit des Buches anlangt.

Das Buch trägt den Untertitel „Eine Biographie“ – und verfügt dementsprechend über ein Abbildungsverzeichnis und ein Register –, ist in Wahrheit aber eine Parodie, ein ungeheurer Lesespaß, bei dem die ernsten Themen, rechtliche Stellung und gesellschaftliches Bild von Frauen, Geschlechteridentität und lesbische Beziehungen nicht unter den Teppich gekehrt werden.

„Er – denn an seinem Geschlecht konnte kein Zweifel bestehen, selbst wenn die Mode der Zeit dazu beitrug, es zu verbergen – zerteilte gerade den Kopf eines Mauren, der von den Dachbalken baumelte. Der Kopf hatte die Farbe eines alten Fußballs und mehr oder weniger auch dessen Form, abgesehen von den eingesunkenen Wangen und vereinzelten Strähnen großen, strohigen Haares, ähnlich der Behaarung einer Kokosnuss. Orlandos Vater, vielleicht auch sein Großvater, hatte ihn von den Schultern eines ungeheuren Heiden geschlagen, der auf den barbarischen Feldern Afrikas im Mondlicht aufgesprungen war, und nun schaukelte er friedlich und unablässig in dem Lufthauch, der ständig durch die Speicherräume des riesengroßen Hauses des edlen Herren wehte, der ihn abgeschlagen hatte.“ (S. 13)

Der im Fortgang der Handlung vermittels eines mehrtägigen Zauberschlafs nicht weiter alternde Orlando sieht sich als Dichter und es verlangt ihn nach Ruhm. Nach längeren Gesprächen mit einem Dichter, der kein gutes Haar an den Leistungen anderer Dichter läßt, will Orlando es bleiben lassen:

„Der Ehrgeiz fiel von ihm ab wie ein Bleigewicht. Befreit vom Sodbrennen verschmähter Liebe und zurückgewiesener Eitelkeit und aller anderen Stiche und Spitzen, mit denen das Nessellager des Lebens ihn gepiesackt hatte, als es ihn nach Ruhm verlangte, und mit denen es ihm nun nichts mehr anhaben konnte, da Ruhm ihm nichts mehr bedeutete, öffnete er die Augen, die die ganze Zeit offen gewesen waren, doch nur Gedanken gesehen hatte, und sah sein Haus, das in der Senke unterhalb von ihm lag.“ (S. 92f.)

Nun stattet Orlando sein Nest, das riesige Herrenhaus, mit Mobiliar und Nippes aus und gibt Gesellschaften. Um den Nachstellungen einer wenig attraktiven Frau zu entkommen, läßt er sich vom König nach Konstantinopel schicken, wo er glanzvoll und erfolgreich als Gesandter wirkt. Nach einem rauschenden Fest überkommt ihn ein weiterer Zauberschlaf, aus dem Orlando als Frau erwacht; sie läßt das Gesandtenleben hinter sich und schließt sich einer Gruppe Zigeuner an. Nachdem sie diese verlassen hatte, um sich zurück nach England aufzumachen, erfuhr sie an Bord des Schiffes, was es bedeutete, als englische Frau behandelt zu werden. Man kann das als galante, mit partieller Wertschätzung verbundene Geringschätzung umschreiben. In London taucht sie dann ein in das gesellschaftliche Leben:

„Eine wahrheitsgetreue Schilderung der Londoner Gesellschaft zu jener wie zu jeder anderen Zeit übersteigt die Fähigkeiten des Biographen und des Historikers. Nur diejenigen, wenig Bedarf an Wahrheit haben und ihr keine Achtung zollen – Dichter und Romanciers –, kann man mit einer solchen Aufgabe betrauen, denn es ist einer jener Fälle, in denen es keine Wahrheit gibt. Es gibt gar nichts. Das Ganze ist ein Miasma, eine Fata Morgana.“ (S. 169)

Um dem leeren Gesellschaftsgeplauder zu entgehen, besucht Orlando schließlich jene geistreichen Soiréen, auf denen die Literaturgrößen der Zeit erscheinen und Bonmots aussprechen, die von den Umsitzenden begierig aufgesaugt werden. Tatsächlich berichtet auch dort nur ein alter General über sein Rheuma. Bis eines Tages Mr. Pope erscheint und wahrhaftig – zum großen Entsetzen der Gastgeberin – geistreich ist. Orlando bittet ihn tollkühn zu sich nach Hause:

„Denn es ist tollkühn, unbewaffnet in die Höhle eines Löwen zu treten, es ist tollkühn, den Atlantik in einem Ruderboot zu befahren, es ist tollkühn auf der Spitze von St. Paul’s auf einem Bein zu stehen, und noch tollkühner ist es, mit einem Dichter allein nach Haus zu gehen. Der Dichter ist Löwe und Atlantik in Personalunion. Der eine ertränkt uns, der andere zerfleischt uns. Wenn wir die Zähne überleben, erliegen wir den Wellen. Ein Mensch, der Illusionen zerstören kann, ist sowohl wildes Tier wie Wassermassen. Illusionen sind für unsere Seele, was die Atmosphäre für die Erde ist. Man entferne diese zarte Luftschicht,  und die Pflanze stirbt, die Farbe verbleicht. Die Erde, auf der wir wandeln, ist verglühte Schlacke. Wir gehen auf Mergel, und feurige Kiesel versengen uns die Füße. Tatsächlich ist es nämlich um uns geschehen. Das Leben ist ein Traum. Das Erwachen ist unser Tod. Wer uns unsere Träume nimmt, nimmt uns unser Leben – (und so fort sechs Seiten lang, wenn Sie wollen, doch der Stil ist ermüdend und ziemlich entbehrlich).“ (S. 178)

Passagen wie diese finden sich immer wieder und lassen die Lektüre des Buchs auch zu einer vergnüglichen Stilkritik der jeweiligen Epoche werden.

Schließlich tritt Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, Esquire, in Orlandos Leben. Er ist so eine Art Fliegender Holländer und muß bei auffrischendem Wind zur nächsten Umseglung von Kap Horn aufbrechen. Die beiden sind füreinander bestimmt:

„In der Tat hatten sie trotz der kurzen Dauer ihrer Bekanntschaft innerhalb von höchstens zwei Sekunden alles von irgendwelcher Bedeutung über den anderen erraten, wie es bei Liebenden stets der Fall ist, und nun galt es nur noch, nebensächliche Einzelheiten nachzutragen wie ihre Namen, wo sie wohnten und ob sie Bettler waren oder wohlhabend. Er besaß ein Schloß auf den Hebriden, war aber ruiniert, wie er ihr erklärte. Tölpel schmausten im Festsaal.“ (S. 219)

Dieser lakonische Humor gefällt mir sehr. Er unterstützt die episodenhafte Konzentration der Erzählung, die für einen Zeitraum von mehr als dreihundert Jahren weitaus weniger Seiten benötigt und dabei (geschrieben von einer Frau, erschienen 1928!) auch ziemliche Paukenschläge setzt:

„»Bist du dir sicher, dass du kein Mann bist?«, fragte er sie besorgt, und sie erwiderte wie ein Echo: »Bist du dir sicher, dass du keine Frau bist?«, und ohne großen Hin und Her machten sie einfach die Probe aufs Exempel. Denn beide überraschte das Einfühlungsvermögen des anderen, und für beide war es eine solche Offenbarung, dass eine Frau so tolerant und freimütig sein konnte wie ein Mann und ein Mann so unbegreiflich und kompliziert wie eine Frau, dass sie sofort die Probe aufs Exempel machen wollten.“ (S. 225)

Während des ganzen Buches werden aber auch immer die Dichter und der Literaturbetrieb aufs Korn genommen, an die Epochen angepaßt und wunderbar beschrieben:

„Orlando, die die sparsame Literatur des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts gewohnt war, sah mit Entsetzen das Ergebnis ihrer Bestellung [man möge ihr alles relevante schicken].Denn für die Viktorianer bedeutete die viktorianische Literatur nicht lediglich vier einzelne und einzigartige große Namen, sondern vier große Namen, eingebettet in ein Heer von Alexander Smiths, Dixons, Blacks, Milmans, Buckles, Taines, Paynes, Tuppers und Jamesons, die laut krakeelten und sich breitmachten und so viel Aufmerksamkeit wie möglich reklamierten.“ (S. 254)

Nach 1929, 1961 und 1992 wurde 2012 die vierte deutschsprachige Übersetzung vorgelegt, die erste, die auch Inhalts- und Abbildungsverzeichnis enthält und, so die Übersetzerin Melanie Walz in den Nachbemerkungen, das Buch erstmals komplett in seiner kompositorischen Anlage erfaßt.

Der Verlag spricht nach meinem Eindruck zu Recht von einem unvergeßlichen Leseerlebnis. Und ich bin neugierig auf andere Texte von Virginia Woolf geworden. Angst hatte ich ja schon vorher keine.

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