Rückkehr nach Lemberg

Philippe Sands, Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine persönliche Geschichte, 2016, dt. 2018 (aus dem Englischen von Reinhild Böhnke), Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg, 505 Seiten plus 86 Seiten Apparat.

Sands, Rückkehr nach Lemberg | Foto: nw2019

Sands, Rückkehr nach Lemberg | Foto: nw2019

Inhalt

Der Autor ist Jurist, Menschenrechtsanwalt und als solcher an vielen Prozessen zu deren Durchsetzung und zur Verfolgung von Völkerstraftaten beteiligt – von Pinochet bis hin zu den Kriegsgebieten in allen Teilen der Welt. Eine Einladung an die Universität von Lwiw, dem früheren Lemberg, bringt ihn dazu, sich mit der Vorgeschichte des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals auseinanderzusetzen. Denn bei seinen Recherchen war ihm aufgefallen, daß sowohl Hersch Lauterpacht als auch Raphael Lemkin in dieser Stadt gelebt hatten, aus der auch sein eigener Großvater Leon Buchholz stammt.

Er will mehr über die Lebensstationen der drei Männer herausfinden und ihn interessiert auch, wieso Lauterpacht auf die Schrecken der Judenvernichtung mit dem Tatbestand der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ reagierte, während Lemkin sich für den Tatbestand des „Genozid“ stark machte. Letzterer bezeichnet die planmäßige Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen, ersterer zielt auf den Schutz von Individuen.

Sands ist ein wirklich guter Erzähler, dem es gelingt, aus kleinen Puzzleteilchen nach und nach ein deutliches Bild zusammenzusetzen. Die von seinem Großvater zumeist eisern beschwiegene Vergangenheit bekommt Tiefe und Dichte. Vergangenheit und Gegenwart stehen in starkem Kontrast, die wechselvolle Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hat tiefe Spuren hinterlassen.

Unter den Habsburgern blühte Zółkiew [eine Stadt in der Nähe von Lwiw]. (S. 47)

2010, als er zu einem Vortrag nach Lwiw reist und natürlich auch nach Zółkiew fährt, woher die Familie der Urgroßmutter stammte, faßt Sands seine Eindrücke wie folgt zusammen:

Ein kultureller Mikrokosmos war zu einem Ort voller Schlaglöcher und umherlaufender Hühner geworden. (S. 49)

Am Beispiel seines Großvaters erzählt Sands, wie Juden in Galizien lebten, welche Möglichkeiten sie dort und dann, nach 1913, in Wien hatten. Bis 1937, dem Jahr, in dem sein Großvater heiratet und den Grundstein für die weitere Entwicklung der Familie legt,  geht alles zufriedenstellend bis gut weiter, auch wenn die Nationalstaaten der Zwischenkriegszeit die Familie trennen.

Den Wendepunkt bildet der sogenannte Anschluß Österreichs im Frühjahr 1938. Nun geht alles ganz schnell: Diskriminierung und Drangsalierung, Entrechtung, Ermordung und Ausweisung. Auch Leon Buchholz wird im Dezember 1938 ausgewiesen, zusammen mit der erst wenige Monate alten Tochter. Seine Frau bleibt zurück, um sich um ihre Mutter zu kümmern, sie kann erst 1941 ausreisen.

Die umfangreiche Rekonstruktion der Ereignisse kann und soll hier nicht wiedergegeben werden. Sie ist allemal spannend zu lesen, führt bei mir aber auch zu tiefer Beschämung ob des von Deutschen und – in weit geringerem Umfang – ihren Kollaborateuren begangenen Unrechts.

Exil

Lauterpacht gelangt nach Großbritannien, Lemkin in die USA, Buchholz nach Frankreich. Alle drei haben es auf unterschiedliche Weise nicht einfach in der neuen Umgebung, wenngleich Lauterpacht der beruflich Erfolgreichste von ihnen ist.

Lauterpacht wird ein angesehener Rechtsprofessor, zunächst an der London School of Economics, dann an der Universität Cambridge. Er schreibt wichtige Aufsätze und Bücher, darunter als Opus Magnum die Fortführung von Oppenheim’s International Law. Engagiert setzt er sich mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinander, verfaßt Memoranden, hält Vorträge, schreibt Aufsätze und nimmt an Beratungen teil.

Lemkin, der in seiner Heimat beruflich angesehen und wirtschaftlich erfolgreich ist, beginnt, Dokumente über das Vorgehen der Nationalsozialisten in besetzten Gebieten zu sammeln, um ein Muster der Entrechtung, Vertreibung und Tötung zu erkennen. Es gelingt ihm, Unterlagen aus allen Teilen Europas zu beschaffen und diese mitzunehmen, als er schließlich quer durch die Sowjetunion über Japan in die USA reist. Auf ihrer Grundlage veröffentlicht er »Axis Rule in occupied Europe. Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposals for Redress«, das 1944 erscheint.

Buchholz ging zunächst nach Wien, wurde Spirituosenbrenner und heiratete. Dann erfolgte der Anschluß Österreichs. Leon Buchholz reist alleine nach Paris und läßt seine Frau und die zwischenzeitlich geborene Tochter in Wien zurück. Die näheren Umstände wird Sands im späteren Verlauf seiner Recherche aufklären. 1939 kam die Tochter, 1942 die Ehefrau nach. Das Überleben im von den Deutschen besetzten Paris gestaltete sich schwierig; Leon war für jüdische Organisationen tätig. Er und seine Frau beschwiegen die Vergangenheit.

Der Nürnberger Prozeß

Lauterpacht gehörte dem Team der britischen Anklagevertretung an, er hatte darauf hingewirkt, daß der Anklagepunkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ aufgenommen worden war. Lemkin hatte in den USA für die amerikanische Anklagevertretung gearbeitet; auf ihn geht der Anklagepunkt „Genozid“ zurück. Beide hatten als ehemalige Bewohner der Stadt Lwiw eine besondere Affinität zum Geschehen und zu einem der Hauptangeklagten, dem vormaligen Gouverneur des besetzten Restes von Polen, der nicht dem Reich eingegliedert wurde, Hans Frank.

Am 16. Oktober 2014 besuchte Philippe Sands den Saal, in dem der Prozeß stattgefunden hatte, gemeinsam mit Niklas Frank, dem Sohn von Hans Frank. Da hatte er den Vortrag in Lwiw, der Anstoß für die umfangreichen Recherchen gab, bereits gehalten (2010). Der legendäre Film „Das Urteil von Nürnberg“ mit Spencer Tracy und Marlene Dietrich hatte ihn früh für das Thema Kriegsverbrechen und internationale Strafgerichtsbarkeit interessiert.

»Ich bin gegen die Todesstrafe«, sagte [Niklas Frank] emotionslos, »außer für meinen Vater.« (S. 488)

Recht ausführlich geht Sands auf Hans Frank ein, den Mann, der als Generalgouverneur für die Liquidierung Hunderttausender Juden verantwortlich ist. Sein Lebensweg, der den der anderen Protagonisten so schwerwiegend kreuzt, würde gleichfalls Stoff für eine Verfilmung abgeben.

Die Darstellung des Prozesses, aber auch seiner Vorbereitung auf britischer und amerikanischer Seite, bietet Sands geradezu als Gerichtsdrama dar, ohne freilich das Grauenhafte der Taten herunterzuspielen und die Würde der Opfer anzutasten. Viele Zitate aus den Prozeßakten bilden die Basis dieser – ja – packenden Schilderung, so etwa bei der Eröffnungsrede für die Anklage durch Robert Jackson oder die Zeugenaussage von Samuel Raizman und das Schlußplädoyer von Hartley Shawcross.

Die Schuld türmte sich hoch. Nur die Angeklagten wollten das nicht sehen, nicht eingestehen.

Mein Fazit

Ein hochinteressantes Buch, das mich durch seine besondere Perspektive überrascht hat, aber natürlich aus genau dieser Perspektive viel Überzeugungskraft und Anschaulichkeit gewinnt.

Am Rande fand ich erstaunlich, daß der Autor eine in klarstem Sütterlin geschriebene Unterschrift nicht lesen kann und über mehrere Seiten schildert, welche Anstrengungen er unternimmt, um jemanden zu finden, der diese „entziffert“, weil er dem Abgebildeten auf die Spur kommen will.

Haarsträubend ist der auf Hans Franks Initiative zurückgehende Baedeker über das Generalgouvernement, der Touristen in das Gebiet locken sollte.

Anrührend fand ich auch diese Passage:

Die Tochter war eine ganze Weile nach dem Krieg in Brasilien geboren worden. Sie hatte eine rigorosere Haltung als ihre Mutter. Sie sagte: »Ich bin gern hier in Krakau, aber ich werde nie vergessen, was die Deutschen getan haben. Ich möchte nicht einmal mit einem Deutschen reden.«

Niklas und ich sahen uns an.

Die Mutter wandte sich an Niklas und fragte: »Und Sie sind ein Jude aus Israel?«

Niklas antwortete prompt: »Ganz im Gegenteil. Ich bin Deutscher; ich bin der Sohn von Hans Frank, dem Generalgouverneur von Polen.«

Einen kurzen Moment war es still.

Dann erhob sich Niklas und eilte davon, aus dem Restaurant hinaus. (S. 344f.)

Drei Lebenswege stehen im Zentrum des Buches, doch auch viele andere werden betrachtet, gewürdigt, dem Vergessen entrissen oder verurteilt. Keine heitere Lektüre fürwahr, aber ein wichtiges Buch.

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