Zwei Geschichten, die im Deutschen Kaiserreich kurz vor der Jahrhundertwende beginnen: Am 7. März 1899 wird im niederschlesischen Wilhelmsthal ein Junge geboren, der auf Umwegen nach Hamburg kommt und dort später, im Jahre 1923 die Hamburger Bücherstube eröffnet, die noch heute als Buchhandlung Felix Jud besteht. 1890 gründete Salomon Haberland die Berlinische Boden-Gesellschaft, die an der Erschließung und Bebauung neuer Stadtteile mitwirkte. Im Jahr 1900 präsentierte diese Gesellschaft den Viktoria-Luise-Platz im neu entstehenden Bayerischen Viertel.

Buchhandlung Felix Jud in Hamburg | Bayerisches Viertel in Berlin
Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts haben auf den Fortgang beider Geschichten massiv Einfluß genommen. Diese beiden Bücher bringen uns die Geschichten näher:
Rainer Moritz, »Die Fütterung der Schlangen geschah vor Ladenöffnung«. Geschichten von Felix Jud: Buchhandlung, Antiquariat, Kunsthandel, 2018
Gudrun Blankenburg, Das Bayerische Viertel in Berlin-Schöneberg. Leben in einem Geschichtsbuch, 2016
Die von Rainer Moritz verfaßte und zusammengestellte Hommage an die traditionsreiche Hamburger Buchhandlung Felix Jud erschien zu deren 95. Geburtstag. Der reich bebilderte, schmucke Band erzählt von den schwierigen Anfängen während der Inflationszeit in der Weimarer Republik, den Problemen im Nationalsozialismus und während des Krieges sie der Nachkriegsentwicklung. Der überraschende Tod des hochgeachteten Nachfolgers Willi Weber im Jahre 2016 überschattete die Jubiläumsvorbereitungen.
Gudrun Blankenburgs Kurzführer betrachtet die gehoben-bürgerlichen Bewohner des Bayerischen Viertels, ihre großzügige individuelle Wohnsituation und das angenehme Gesamtklima: gute ärztliche Versorgung, reines Wohngebiet mit Geschäften, ein intellektuelles Publikum. Eines dieser Geschäfte ist der am 11. März 1919 gegründete „Buchladen am Bayerischen Platz“. Gründer Benedict Lachmann hatte das Geschäft 1937 an seinen Mitarbeiter Paul Behr übergeben. Lachmann wurde nach Lodz deportiert, Behr geriet in russische Kriegsgefangenschaft, das Haus wurde zerbombt. Martha Behr fand in der Grunewaldstraße eine Möglichkeit, mit den geretteten Büchern weiterzumachen. Im Jahr 1975 erwarb Christiane Fritsch-Weith die Buchhandlung, die sie bis heute führt.
Die beiden Bücher bieten viele Informationen, eine gewisse Prise Tratsch und sind unterhaltsam geschrieben. Sie setzen sich mit den Brüchen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinander und geben eine ganze Reihe Anstöße zum Nachdenken. Zwei gänzlich unterschiedliche Buchhandlungen als Kristallisationspunkte deutscher Zustände im 20. Jahrhundert – und beide erfüllen bis heute eine wichtige Funktion als Orte geistigen und kulturellen Lebens. Außerdem macht es Freude, dort Bücher – so die beiden hier vorgestellten Werke – zu kaufen und über Bücher zu reden.