„Sie mögen doch Bücher über Bücher,“ sagte der Buchhändler, als ich am 18. November 2016 nach „Die Gefahren des Lesens“ von Petra Gust-Kazakos fragte. „Das kommt erst nächste Woche heraus, lesen Sie doch solange dies hier!“ Und so nahm ich Edmund White, Hotel de Dream, Männerschwarm Verlag, 2015 (2007; Übersetzung Joachim Bartholomae), 226 Seiten plus 5 Seiten Anhang, mit nach Hause. Gegenstand des Buches ist ein verschollener Roman von Stephen Crane.
Stephen Crane (1871-1900) hat sich trotz seiner kurzen Lebensspanne mit seinem Buch „Die rote Tapferkeitsmedaille“ (The Red Badge of Courage, 1895), das im amerikanischen Bürgerkrieg spielt, einen Platz unter den klassischen amerikanischen Autoren des 19. Jahrhunderts erobert. Als Kriegsberichterstatter erlebte der den Griechisch-türkischen Krieg (1897) und den Amerikanisch-Spanischen Krieg (1898). Danach ließ er sich in England nieder, wo er Kontakt mit britischen Schriftstellern hatte, unter anderem mit Joseph Conrad und Henry James. Er war an Tuberkulose erkrankt und starb während eines Sanatoriumsaufenthalts in Deutschland.
White spürt in seinem Buch der Entstehung und den Nachwirkungen jenes Manuskripts von Crane nach. Crane ist zur Erzählzeit schwer erkrankt und kurz vor der Reise in das deutsche Sanatorium; der Text nimmt seine Leser mit auf eine kurze Zeitreise zurück in die „homosexuelle New Yorker Unterwelt“ (Klappentext). Mit dieser war der heterosexuelle Crane durch eine Zufallsbegegnung mit einem Strichjungen in Berührung gekommen und hatte aus schriftstellerischem Interesse seine Lebensumstände recherchiert.
Whites fiktionaler Text ist realistisch, weil er das Häßliche nicht vermeidet, und gleichzeitig ironisch, wenn er die Marotten seiner Figuren schildert. In kurzen Phasen nicht ganz so großer Schwäche diktiert Crane die Geschichte von Elliot, dem Straßenjungen. Ein Bankbeamter, verheiratet und Vater von zwei Kindern, ist in ihn verliebt. Es kommt zu Verwicklungen. Ansonsten geht es um Crane und seine Partnerin Cora, die Krankheit und um Rückblenden in sein doch eher kurzes Vorleben.
Während ihrer Arbeit im Bordell hatte sie die Hydraulik des Begehrens oft genug miterlebt, um dem Vergnügen keine allzu große Bedeutung beizumessen. (S. 48)
Seine Haut war bleich, und die Linien in seinem Gesicht erzählten von langen Nachtwachen auf dem Schiff der Kunst. (S. 65)
Das war wirklich speziell – er sprach zurückhaltender über seine Studien als über sein Sexualleben. (S. 89)
Wie Geier, die ein Tier angreifen. das bald sterben wird, trafen die Wellen aus allen Richtungen auf das Schiff. (S. 122)
Mit den Korsettstangen der Wohlanständigkeit hatte sie mehrere Jahre ihres Alters abgelegt. (S. 135)
Puritanertum, Heuchelei und Homophobie sind keine Phänomene, die mit dem 19. Jahrhundert zu Ende gegangen wären. Die historisierende Camouflage des Romans verhindert nicht, daß beim Lesen eine Verknüpfung zur Jetztzeit gezogen wird.
Prostitution, Gewalt, Krankheit und Einsamkeit, ja auch Tragik sind also die hervorstechenden Themen, aber es geht auch um das Werk eines Schriftstellers als solches, die Entstehung von Texten und den Schreibprozeß, den Unterschied zwischen Realität und Fiktion und natürlich um das Sterben. Und Henry James wirkt als Gralshüter. Dann ist der Traum vorbei. Am Rande sei vermerkt, daß auch Freunde der Oper mit drei oder vier unerwarteten Kurzbemerkungen, die über den Text verstreut sind, auf ihre Kosten kommen.
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