Der Roman »Der Susan-Effekt« von Peter Høeg erschien 2014, die deutsche Übersetzung (Peter-Urban-Halle) ein Jahr später bei Carl Hanser; vor mir liegt die im gleichen Jahr erschienene Ausgabe der Büchergilde.
Peter Høeg ist, seit im Jahr 1994 sein Roman »Fräulein Smillas Gespür für Schnee« erschien, ein bekannter Autor, der aber schon vorher einen Roman und Erzählungen veröffentlicht hatte; insgesamt liegen acht Romane und mehrere Bände mit Erzählungen vor.
Es ist gleichwohl – Asche auf mein Haupt – meine erste Begegnung mit ihm, und sie kam auch nur zustande, weil ich im letzten Quartal 2015 kein Buch gekauft hatte und dieses von der Büchergilde zugeschickt bekam. Ein wenig ist das so wie im Abonnementskonzert, wo sie einem vor der Pause Musik des 20. Jahrhunderts, die als zeitgenössisch etikettiert wird, obwohl der Komponist vor vierzig Jahren starb, vorsetzen, und alle bleiben, weil es nach der Pause Beethoven oder Brahms gibt. So komme zumindest ich in Kontakt mit Werken und Komponisten, deren Konzerte ich sonst eher nicht kennengelernt hätte. Auf diese Weise gelangte also auch dieses Buch in mein Regal und ich muß sagen: Gott sei Dank!
Denn, und das vorab, das Buch ist großartig, eine gute Mischung aus Thriller und Gesellschaftsstudie! Eine präzise Sprache, ein interessanter , wenn auch ein bißchen abgedrehter Plot, gut zu lesen, sehr lebendige Figuren, spannend erzählt und brillant übersetzt.
Soeben hat Susan, die Ich-Erzählerin, die Leiche einer brutal ermordeten Frau gefunden:
Mit der Angst hat es eine seltsame Bewandtnis. Sie steckt nicht nur im Körper und im Bewusstsein; wenn man sie wahrnimmt, entdeckt man, dass sie auch eine physische Umgebung durchdringt, den Raum und die Wände. Und sie kann lange in der Luft hängen bleiben, womöglich werden dieser Raum und dieses Gebäude monate- oder jahrelang vom Grauen durchdrungen sein. Mein ganzes inneres System schreit danach, ins Freie zu kommen, und zwar schnell.
Die Zwillinge sind der Grund, warum ich sitzen bleibe. Ich bin dreiundvierzig, ich habe gute Zeiten erlebt. Zumindest hatte ich die Chance dazu. Aber die Zwillinge sind große Kinder. Ich habe mir vorgenommen, alles zu tun, die Wahrscheinlichkeit einer Zukunft für sie zu vergrößern. (S. 88f.)
Das Buch ist alles andere als ein Heimatroman, doch Dänisches ist sehr explizit und von Anfang bis Ende präsent. Høegs Geschichte könnte in jedem europäischen Land spielen, ist aber keinesfalls ortlos, sondern ausdrücklich lokal und auch gesellschaftlich sehr stark in Dänemark verwurzelt. Mir erscheint dies weitaus stärker ausgeprägt als beispielsweise im Roman »Der Grund« von Anne von Canal, der in Schweden und Estland spielt, wo es mir aber auch schon auffiel.
Er seufzt. Ich habe ihn in einer sehr schönen und sehr tiefen Eigenschaft getroffen: Wie alle großen Beamten ist er furchtbar knauserig mit dem Geld des Staates. (S. 107)
Die sehr spezielle Familie – Susan, ihr Ehemann Laban und die Zwillinge Thit und Harald – geraten in einen spannenden Thriller, dem es nicht an drastischer Darstellung von Gewalt gebricht. Aber auch Tempo, Witz und, ja, Physik – und später überraschenderweise Gärtnerei – bestimmen die Geschichte. Kommen sie den Mächtigen eher durch Zufall in die Quere oder sind sie nur Figuren auf einem Spielbrett, dessen Ränder sie nicht sehen können? Denn im Laufe des Buches wird die Atmosphäre für die vier deutlich bedrohlicher.
Eine zufällige Übereinstimmung eines Details mit einer der Geschichten aus »Tanz der Dienstmädchen« von Maeve Brennan: die Bewirtung von Obdachlosen zu Weihnachten. Während es dort die Laune einer verwöhnten reichen Frau ist, handelt es sich hier um das echte Bedürfnis von Susans Tochter Thit. Aber auch dieses Detail wird für den Fortgang der Geschichte überaus bedeutsam werden.
Das Buch ist stellenweise sehr brutal, oft überdreht und natürlich auch unwahrscheinlich. Aber wir glauben an die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, auf denen die Geschichte über die Zukunft und die geheimnisvolle Zukunftskommission aufbaut, deswegen halten wir sie für denkbar – so oder ähnlich werden Eliten sich vorbereiten, sich Überlebensmöglichkeiten schaffen.
Susan ist nicht nur Physikerin, sie hat nicht nur den titelgebenden Effekt – die Gabe, daß Menschen in ihrer Gegenwart die Wahrheit sagen –, sondern Männer jeden Alters begehren sie auch sexuell und zeigen das durch eindeutige körperliche Reaktionen. Nicht jedem bekommt das.
Das Buch bietet viel (Ei, Blut, Kakao), reißt Themen an, lotet Zwischenmenschliches aus, wirft Schlaglichter auf dieses und jenes – ist es am Ende mehr als ein Kaleidoskop? Wie valide ist die Analyse eines Wohlfahrtsstaates, der demokratischer Kontrolle entgleitet und hinter einer Fassade zur Beute von Eliten wird, die Macht, Reichtum und Privilegien genießen und bewahren wollen, gerade auch vor diffus bleibenden Bedrohungen?
Im letzten Sommer ist das Buch an mir vorbeigegangen, aber es hatte auch jetzt noch seine Berechtigung und Bestimmung.
Das meint Constanze Matthes von »Zeichen und Zeiten«: “Der Susan-Effekt” ist ein gar wunderliches Buch, das mich sehr in seinen Bann gezogen hat.
Eva Jancak von »Literaturgeflüster« resümiert verhaltener: Ein Bestseller, der leicht und spannend zu lesen ist und als Weihnachtsgeschenk für die berühmte Schwiegermutter wahrscheinlich gerade richtig kommt.
In der Süddeutschen Zeitung resümierte Kristina Maid-Zinke: Nimmt man ihn nicht zu ernst, kann man mit ihm und seinem „Susan-Effekt“ viel Spaß haben. Deutlich enttäuscht Lena Bopp in der Frankfurter Allgemeinen: So bleibt das Buch zwar spannend, aber es wirkt immer reserviert und ist letztlich vor allem berechenbar.
Eines meiner liebsten Bücher aus dem letzten Jahr 🙂 Falls Du noch Lust auf eine weitere Rezension hast, ich habe sehr geschwärmt:
http://bingereader.org/2015/09/09/der-susan-effekt-peter-hoeg/
Vielen Dank für die Zitierung, aber bitte meinen Namen richtig schreiben. Ich heiße Eva Jancak
Wurde korrigiert!
Ich hab’s gerade zum Geburtstag geschenkt bekommen und bin sehr gespannt. Danke für die Rezension. Jetzt werde ich es auch lesen – bislang war ich zurückhaltend, weil mir meine letzte Høeg-Lektüre (De måske Egnede) nicht ganz so gut gefallen hat.
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