Zum idealen Leser von Goethes »Werther«

Foto: nw2015

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Mit dieser kurzen Abhandlung wird das Goethe-Jahrbuch 2014 eröffnet. Der junge Goethe-Forscher Markus Gugel untersucht darin die doppelte wirkungsästhetische Struktur des weltberühmten Romans, die, bei einseitiger Lesart, die Ambiguität von Empathie und Distanzierung verkennt und den Text zwangsläufig mißversteht.

Die Form des Briefromans und der besondere, an allem Geschehen um ihn herum anteilnehmende Stil Werthers ermöglichen dem Leser eine hohe Identifikation und Empathie mit den Leiden Werthers. Auch die vom Helden angesprochenen und eingeflochtenen Lektüren schließen seine Gefühlswelt auf und bieten einen für die Leser anschlußfähigen Lesehabitus.

Im Text subtiler angelegt – und deshalb von den Lesern der Erstauflage übersehen – sind jene Elemente, die den Lesern Distanz zur Hauptfigur ermöglichen und eine eigene Sicht auf die Dinge eröffnen sollen. Die deutliche Schilderung der Selbsttötung und des Sterbens, die Verweigerung der christlichen Bestattung – all das kommt klar zum Ausdruck und steht im Gegensatz zu Werthers schwärmerischer Lesart. Werthers Einschätzungen werden mit denen des Amtmanns konfrontiert, Werthers Gefühlskult wird Alberts Vernunftposition entgegengesetzt. Goethe zeigt den Lesern also eindeutige Gegenpositionen auf, denen er auch den Vorzug gibt. Goethe ironisiert Werthers Literaturrezeption und legt die Trivialität seiner überreizten und pathetisch erhöhten Lebensweise offen.

Der zweiten Auflage stellt Goethe die Worte: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach“ voran, mit denen Werther selbst, aus dem Jenseits, die Leser vor der Überidentifikation warnt.

Gugel schlussfolgert, Goethe habe zwei Literaturkonzepte zusammengefügt und markiere mit dem »Werther« den „poetischen Wandel von der moralisierend-diaktischen Belehrung der Aufklärungsliteratur zur reflektierten Empathie als neuem Rezeptionsmodus“ (S. 20). Den notwendigen Ausgleich leistet Goethe aber nicht in seiner Hauptfigur, sondern erwartet ihn als intellektuelle Leistung von den Lesern.

Diese haben sich jedoch bekanntlich vom Gefühlskult übermannen lassen und die angebotenen Distanzmomente schlankweg ausgeschlagen. Die Gewalt der offen ausgesprochenen Gefühle erwiesen sich, so meine Einschätzung, als von stärkerer Anziehungskraft als Vernunft und Beherrschung. Goethes »Werther« war modernster Pop.

 

Markus Gugel, »ein geistiges Werk geistig aufnehmen«. Zum idealen Leser von Goethes »Werther«, in: Goethe-Jahrbuch, 2014, S. 13-20.

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