Sechs Kapitel, gerahmt von Vorbemerkung und Ausblick, widmet Sloterdijk der Moderne, ihrer Entstehung und ihren Folgen. Ein großes Thema, das selbst auf 480 – kleinformatigen und nicht eng bedruckten – Seiten nur in vergröbernder Form und nur unter ausgewählten Gesichtspunkten behandelt werden kann.
Seine Anhaltspunkte und Untersuchungsparadigma sind der Hiatus, die Filiation sowie die nachhaltige Störung von Sukzession und Genealogie. Wo jedes Erbe überflüssig geworden ist, wird nichts bewahrt; dies ist die bittere Konsequenz des „anti-genealogische[n] Experiment[s] der Moderne“, das der Untertitel des Buches beschwört.
Wortgewaltig wettert Sloterdijk gegen Verfalls- und Untergangserscheinungen, ohne die Vergangenheit zu verklären. Seine Diagnose bleibt trotz der gelegentlich formulierten Rage seltsam unbeteiligt und gerinnt zu einem resignativen: So ist es wohl.
Die Lektüre des Buches ist gleichwohl äußerst anregend, ich habe interessante Argumente entdeckt und viele Hinweise auf Bücher und Autoren erhalten. Hier ist Nach- und Weiterarbeiten erforderlich, wie bei jedem guten Buch.
Sloterdijk sieht uns Heutige „im Delta“, einem gigantischen Zwischen-Raum – halb Nirwana, halb Labor.
„Die entropischen Konsequenzen aus dem zivilisationsdynamischen Hauptsatz für das Kommende sind evident: Bei fortschreitender Mobilisierung werden die Freisetzungen den moderierenden Instanzen mit wachsender Fluchtgeschwindigkeit davonlaufen. Synchronisierung (Vernetzung), Aspirisierung (Ausweitung der Forderungszone), Urbanisierung (Wachstum der Komfortchancenzone) uznd Sekurisierung (Expansion der Paranoia-Zone) bleiben die regierenden Vektoren – wobei der Monetarisierung die Funktion des Mediators zufällt. Die Ausweitung der Staatsdienste in den rund 200 im UNO-Raum angemeldeten politischen Körpern zieht die Modernisierung der Korruption nach sich – für diesmal konventionell verstanden als Unterwanderung des Rechts durch Angehörige der öffentlichen Dienste, die nicht sehen, was dem Charme eines zweiten Einkommens widerstehen könnte. Die wachsende Aktivität der »Staatsdiener« in staatsunfähigen Kulturenwird ohne explodierende Korruption – und mitwachsende Anklagen gegen sie – nicht zu haben sein . Als Garanten der Korruption wird die Mehrheit der etablierten wie der improvisierten Nationalstaaten des 21. Jahrhunderts zu dem machen, was es aus der Sicht des 22. gewesen ist. Sie bereiten ihr Versagen vor, das man ihnen vorwerfen wird, sollten die Bilanzen eines Tages offengelegt werden.“ (S. 484f.)
Ein zutiefst pessimistischer Text, der vor einer umstandslosen Fortschrittsgläubigkeit warnt, aber keine Remedur anzubieten hat.
Ich stimme Ihnen zu: Sloterdijk lesen kann intellektuellen Genuss und überraschende Einsichten vermitteln. Dennoch stört, sobald man innehält, dass er selbst „seltsam unbeteiligt“ ist. Man spürt bei ihm kein Bedauern, schon gar keine Verzweiflung, über den (Ab-)Weg, den unsere Kultur in der Moderne eingeschlagen hat. So bekommt er überhaupt nicht die – mein Terminus – „Selbstsabotage der Aufklärung“ in den Blick, sieht deshalb auch keinen Ansatz für zunächst einmal theoretische „Remedur“.
Ich habe eine Rezension seines Buches in diesem Sinne kommentiert:
http://www.literaturkritik.de/public/mails/rezbriefe.php?rid=19612#2834
Auch dort natürlich viel zu knapp, aber über Namen und Stichworte evtl. zu weiteren Erkundungen anregend.
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