1998 erschien die voluminöse Shakespeare-Studie von Harold Bloom: „Shakespeare – The Invention of the Human“, die auch als Ausdruck der Wertschätzung dient, welchen Stellenwert das Lesen der Klassiker in der us-amerikanischen Bildung einnimmt. Bloom Interpretationen sind freilich nicht unumstritten, sein Verständnis von Shakespeare und seine Lektüreauffassung hat starke Ablehnung hervorgerufen.
In Blooms Kosmos stehen Hamlet und Falstaff ganz oben und legen in ihrer Komplexität und Weisheit beredtes Zeugnis ab für die Komplexität und Weisheit des Autors Shakespeare: „When we are wholly human, and we know ourselves, we become most like either Hamlet or Falstaff.“ Mit diesen Worten beendet Bloom die 745 Seiten.
Hugo von Hofmannsthal hat unter dem Titel „Shakespeare und wir – Zum 23. April 1916“ einen Essay geschrieben, der auf den 1813 erschienenen Aufsatz „Shakespeare und kein Ende“ von Goethe Bezug nimmt. Hofmannsthal sieht das deutsche Theater als ‚Nationalbühne‘ überhaupt erst durch Shakespeare ermöglicht, an dem sich die deutschen Dramatiker abzuarbeiten gehabt hätten.
„Die heutige Zeit kennt keinen tieferen Drang, als über sich selbst hinauszukommen. Der Lebende fühlt sich überwältigt durch die Gewalt der Umstände; das schweifende, schwelgende Genießen, das fühlt er, ist kein Ausweg, der Genuß zieht ihn nur tiefer in die Sklaverei hinein, und der Besitz unterjocht. Nach oben hin ist die Idee der Freiheit in den Äther verschwunden, nach innen zu die Idee der Tugend leer und wesenslos geworden. Begriffe, Namen, verdüstern die Pfade des Lebens mehr, als sie sie erleuchten, die Handlung hat sich zu Begebenheit erniedrigt. Wo ist eine Offenbarung des Höchsten? Ebendort, wo Wirklichkeit ist, antwortet die innere Stimme, die untrüglich ist.“
Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Bd. I, Gedichte und Prosa
(hrsg. v. Dieter Lampning), 2003, S. 558
Das Einmalige, so Hofmannsthal, erwachse aus der geistigen Spannung der Leidenschaft und sei in Shakespeares Schöpfungen prominent: „nirgends sind die inneren Spannungen so hoch, wie in »Hamlet«, Macbeth« und »Othello«.“ (S. 559) Jede Zeit könne ihren eigenen Shakespeare erfahren und er werde für sie wahr sein. Denn in Leidenschaft und Kunst sei das Schöpferische wirksam (S. 560); und es helfe gegen das Chaos. Im dritten Kriegsjahr verfaßt, klingen die Passagen des Essays etwas unwirklich.
Gar so weit auseinander wirken beide Lesarten da gar nicht mehr.
Hat dies auf Sätze&Schätze rebloggt und kommentierte:
Jede Zeit erfährt ihren eigenen Shakespeare – Harold Bloom und Hugo von Hofmannsthal auf den Notizheften:
Hat dies auf Wolfsblog rebloggt.
Hofmannsthals Sicht auf das deutsche Theater als «Nationalbühne» überhaupt, das erst durch Shakespeare ermöglicht wurde und an dem sich die deutschen Dramatiker «abzuarbeiten» gehabt hätten: schwierige Interpretation – ganz vielleicht aus der Zeit heraus zu verstehen. Handlungen zu Begebenheiten erniedrigt ? Schmeckt nach den Auftragskompositionen der Hofkomponisten bei Friedrich und Ludwig. Und «Offenbarung des Höchsten» findet im / auf dem Theater ohnehin nicht statt. Dann schon eher die «schöpferische Wirksamkeit von Leidenschaft und Kunst als Hilfe gegen das Chaos». Aber dafür waren die Bühnen der «Commedia dell’arte» eben vorher schon wesentlich wirksamer – bevor auch sie höfisch wurden.
Ich habe backstage oder bei Generalproben viel Shakespeare erlebt, nicht zuletzt durch meine Freundschaft mit und zu Bernhard Kleber, der bei meinem letzten Treffen in Düsseldorf reichlich Stroh und Mist zum Einsatz brachte. (Eine Produktion von «Wie es euch gefällt» in der Übersetzung von Thomas Brasch)
Zur Wiedereröffnung des Hauses (Berliner Ensemble/Theater am Schiffbauerdamm) schrieb ebenjener Thomas Brasch in seinem Prolog:
«Das ist’s, seht, weit stehen meine Türen
wie eure Augen allen Fragen offen stehn
oh ja ich altes Haus und meine neuen Geister hoffen
daß uns die Fragen und die Zeiten nie ausgeh’n.»
Dies ist – kurzgefasst – für mich die Antwort auf die Frage, für deren Beantwortung Bloom 745 Seiten benötigt. (Wohlgemerkt: Ohne diese gelesen zu haben – nur als Beobachter und Goûteur der beteiligten Blogger).
Hier an diesem Kommentar, der anonym als Neuköllner Botschaft kühn verkündet wird, ist ja alles verquer:
1. die Commedia dell’arte begann etwa zeitgleich mit Shakespeare und war keineswegs ein „Vorläufer“
2. die Commedia dell’arte mit ihrem feststehenden Personeninventar war stereotypisches Theater
3. In Hoffmannsthals poetologischen Ausführungen ist expressiv verbis zu lesen, dass die Kunst keinen Zweck dienen sollte
Nun zu Blooms Shakespeare-Buch: Dabei ist zu bedenken, dass dieses Buch für den USamerikanischen Rezipienten geschrieben wurde. Wir als Engländer würden ein Shakespeare-Buch freilich anders schreiben und ihr als Deutsche auch. Ich habe mir aus beruflichen Gründen Blooms Buch betrachtet, aber nur überflogen. Ich finde es ein wenig zu sehr psychologisierend, was die Shakespeare Rezeption betrifft, aber es scheint mir sehr einfach lesbar zu sein, wenn es auch eigentlich nichts Neues bringt. Aber was soll man über Shakespeare noch Neues schreiben.
Ich finde das gut, dass du dieses Werk vorgestellt hast, denn jede und jeder, der sich noch nicht mit Shakespeare beschäftigte, wird dieses Buch mit Gewinn und Genuss lesen.
Mit herzlichen Grüßen von der sonnigen Küste Norfolks
Klausbernd