Gefahren für die liberale Demokratie

Marlene Wind, The Tribalization of Europe. A Defence of our Liberal Values, 2020, 131 Seiten.

Cover-Abbildung der Verlagswebseite

The tribalization of politics is a global megatrend in today’s world (S. vi)

Das Buch versteht sich als Weckruf, will auf die Gefahren von Identitätspolitik hinweisen und die Leser dazu ermutigen, sich für echte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa starkzumachen. (S. viii)

All this now feels like ancient history. (S. 3)

Nachdem Wind auf den ersten beiden Seiten ihres Essays die postnationale Konstellation zwischen 1990/91 und circa 2010 geschildert hat, holt sie ihre Leser mit diesem knappen Satz zurück in die Realität. Die zwischenzeitlich in Europa für selbstverständlich gehaltene Demokratie sei mittlerweile wieder auf dem Rückzug, selbst wenn in den betroffenen Staaten noch Wahlen abgehalten würden. (S. 3)

Tribalismus versteht sie als die Tendenz, nur die eigene Gruppe gelten zu lassen und mit dieser in ungestörter Homogenität leben zu wollen. Letztlich führe dies zu einer absurd anmutenden und an das Heilige Römische Reich erinnernden Kleinstaaterei. (S. 4) Abgrenzungsvorstellungen hätten die Oberhand gewonnen. Dabei gehe es primär um ethnische, religiöse und sonstige Homogenität, zunehmend wendeten sich solche Bewegungen aber auch gegen liberale Eliten, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.

Den Verlockungen, mit einer solchen Politik Wähler (zurück) zu gewinnen, könnten leider auch Parteien und Politiker der Mitte gelegentlich nicht widerstehen. (S. 8f.)

Democracy in the age of populism has thus become unconstrained majority rule, with political debate reduced to fake news and cultural fundamentalism. Equating democracy with an extreme version of majoritarianism, in which the rule of law and judicial institutions (inside as well as outside the state border) are readily questioned and even sometimes dismantled, is an extremely dangerous path to go down. (S. 10)

Aufbauend auf Arbeiten von Benedict Anderson werden Nationen und Gemeinschaften als menschengemachte Konstrukte betrachtet. (S. 12) Bei deren Ausbildung spielt die Schule eine herausragende Rolle. (S. 13) Der moderne Nationalstaat ist in Europa aus dem älteren Territorialstaat hervorgegangen, durch die Identität verfügt er über einen starken Mobilisierungsfaktor, der die Wehrpflichtarmeen ermöglichte. (S. 14)

Wind erläutert die Irrationalitäten des katalanischen Unabhängigkeitsprojekts und spricht ihm unter Berufung auf Joseph Weiler eine europäische Zukunft ab. Die EU sei gerade ein Projekt der Vielfalt und keines der Reinheit. (S. 24)

[R]ewarding secession with EU membership is unlikely to be the route the EU takes. (S. 24)

Denke man in der Logik der Separatisten weiter, komme man zurück zu lange überwundener Kleinstaaterei, aber heutzutage sei eine aus fünfzig oder mehr ethnischen Enklaven zusammengesetzte EU handlungsunfähig und rückwärtsgewandt. (S. 30f.)

Der Brexit gilt der Autorin als besonderer Ausdruck des Tribalismus, als Fetischisierung von Souveränität und gleichzeitig ein Beispiel für die Bedeutung von Fake News und russischer Einflußnahme. (S. 38ff.) Die Schilderung der demokratischen und liberalen Rückschritte in einigen Ländern Mittel- und Osteuropas ist ebenso sachlich wie erschreckend. In ihrer Kürze (S. 41-47) offenbart sie eine gefährliche Entwicklung in den betroffenen Ländern – nicht nur Ungarn und Polen – und der EU selbst, die mit dem Problem nicht recht umzugehen weiß (S. 48ff.). Demokratie müsse mehr bedeuten als durch Wahlen legitimierte Mehrheitsherrschaft; Herrschaft des Rechts und liberale Prinzipien gehörten unabdingbar dazu. (S. 51f.). Tribalismus bedeute eine Umwertung des Demokratieverständnisses (S. 52).

Lesenswert sind ihre generellen Ausführungen zum Konflikt zwischen einer institutionell ausbalancierten Demokratie einerseits und einer auf Mehrheitsherrschaft ausgerichteten Demokratie, in der der Parlamentswille nicht von Gerichten begrenzt wird, andererseits (S. 55ff.). Hiervon ausgehend, erkennt sie einen Verlust an Unterstützung für liberale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (S. 57f.). Ihre Analyse der Situation in Polen (S. 88ff.) gipfelt in der Forderung nach einer starken Reaktion der EU (S.89f.).

Are illiberal democracies even to be called democracies? (S. 94)

Das Buch überzeugt durch gute Gliederung und Lesbarkeit. Allerdings werden die entscheidenden Argumente oft wiederholt, ohne daß neue Aspekte hinzugefügt oder etwaige Gegenargumente tatsächlich entkräftet würden. An manchen Stellen gerät der Essay so zu einer Art Glaubensbekenntnis, dem es dazu noch an Verve fehlt.

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