Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin

Im Alter von sechzig Jahren setzte sich Günter de Bruyn an seine mit „Zwischenbilanz“ betitelten Erinnerungen über seine Jugend. Er läßt das Buch mit dem Kennenlernen seiner Eltern im Jahr 1911 beginnen und fügt oft wiederholte Bruchstücke von Erzählungen zu einer erstaunlich stringenten Erzählung zusammen.

Fesselnd geschrieben und sehr gut durchkomponiert, bietet das Buch gute Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt des heranwachsenden Autors, der nicht seine späteren Positionen absolut setzt, sondern das sich Entwickelnde, Unfertige deutlich macht.

Die Geschichte ist nicht untypisch, die Lebensstationen de Bruyns werden von den historischen Ereignissen determiniert, Schulbesuch ab 1933, NS-Jugendorganisationen, einfache Lebensumstände, Krieg mit Kinderlandverschickung und Bombennächten, Flakhelferausbildung und Notbeschulung, Durchschlagen nach Hause, Neuanfang unter der Besatzungsherrschaft, Teilung Berlins, SED-Herrschaft. Aber die Prägnanz der Darstellung beeindruckt, die Darstellung der Gefühlswelt wühlt den Leser auf, die Bedeutung von Lesen und Büchern wird in jeder Zeile spürbar. De Bruyn ist ein wahrer Homme de Lettres.

Der Autor zeichnet sein jüngeres Ich realistisch, einerseits versponnen und andererseits bereit, wie damals üblich, allerlei Tätigkeiten zu übernehmen. Obwohl kein typischer Berliner Steppke, der mit dem Mund vorneweg ist, gibt sich der junge de Bruyn von der Großstadt unbeeindruckt, ist aber auch kein Freund des Landlebens. Kaserne, Gleichschritt und Schützengraben sind seine Sache nicht, ebensowenig wie Indoktrination und Einparteienherrschaft.

Ohne etwas von deutscher Romantik zu wissen, lebte ich geistig vom Heinrich von Ofterdingen oder vom Sternbald, vom Protest gegen das Industrie- und Massenzeitalter also, in das ich hineinwuchs. Ehe ich lesen lernte, konnte ich von der blauen Blume singen, die nur ein Wandervogel finden kann. Die geeignete Vorbereitung auf das Leben, das mir bevorstand, war das wohl nicht. Aber wie hätte es anders auch sein sollen: Lebten doch, während die Flugzeuge schneller und die Waffen mörderischer wurden, auch die meisten Erwachsenen geistig im 19. Jahrhundert, ob nun Wagner-, Nietzsche-, Bismarck-Verehrung oder ein monarchistischer, nationalistischer oder sozialistischer Traum ihnen die Augen verschloß. (S. 45)

Mehr Resonanz fand seine Kinofreude, wenigstens bei Mutter, Wolfgang und mir. Gisela und Karlheinz opponierten, und ihre Argumentation war stark neudeutsch geprägt. Das Kino war in bündischem Verständnis nur für Ofenhocker, Spießer, Modegecken und Poussierer gut, ein Lebenssurrogat für innerlich verkalkte, ausgehöhlte Existenzen, auf das ein Echt-Lebendiger verzichten konnte, wie auf Alkohol und Nikotin. Film bot Zerstreuung, wo doch Sammlung nottat; Analphabeten mochten sich an seiner Flachheit wohl ergötzen, wer aber mehr als niedrigstes Vergnügen wollte, griff zum Buch. (S. 47)

Das Lesen, das Eintauchen in die deutsche Kultur und Literatur, war prägend, aber doch auch einseitig, nicht umfassend und wenig kritisch.

Natürlich waren wir alle, die wir 1933 Lesen und schreiben gelernt hatten, vo der herrschenden Ideologie infiziert worden, und zwar weniger vom Germanenkult und vom Antisemitismus als von der schon seit wilhelminischen Zeiten tradierten „Deutschen Sendung“ und dem „Soldatischen Geist“. Von der Welt isoliert, dumm gehalten und mit Vorurteilen beladen, waren wir als williges Kanonenfutter aufgewachsen; aber fanatische Nazis waren wir wider Erwarten nicht geworden. Was die älteren Jahrgänge betört und begeistert hatte: das Ordnungschaffen im Innern und das Kraftzeigen nach außen, die Sanierung der Wirtschaft und die Pracht der Fahnen und Aufmärsche, war uns selbstverständlich gewesen, das einst als erhebend empfundene Ritual lästige Pflicht. Die Kampflieder hatten das Kämpferische für uns verloren, und die Führerreden, die dauernd gehört werden mußten, ödeten uns an. Den Älteren war Hitler die Alternative zur Weltwirtschaftskrise und zu den Folgen des Versailler Vertrages gewesen; uns war er kein Retter mehr, sondern nur noch alltäglich Realität. Die Aura, die ihn für die Masse der Deutschen umgeben hatte, begann zu verlöschen, als wir zu denken begannen. Grund zur Begeisterung waren für unsere Jahrgänge noch die militärischen Siege gewesen, die user Denken mehr feldgrau als braun gefärbt hatten; die Niederlagen brachten Ernüchterung und Perspektivlosigkeit. (S. 142f.)

Wichtig sind für den jungen de Bruyn Gesprächspartner, mit denen er sich austauschen und über Lektüren, aber auch über die Welt und die Frauen sprechen kann

Durch ihn, der jede freie Minute für die Zeit danach nutzte, lernte ich den Krieg als ein Stadium des Durchgangs zu betrachten, das möglichst unbeschädigt zu überstehen war. Denn das bißchen Geist, ds es gab, mußte gerettet werden, und da jeder Dummkopf den Finger am Abzugshahn krümmen konnte, waren die Überlebenschancen für kluge Köpfe nicht groß. Speziell wir aber, wir jungen Deutschen, würden uns wahrscheinlich auch als Überlebende noch bis zum eigentlichen Leben lange gedulden müssen; denn gewänne Deutschland den Krieg, würden wir die Uniform noch Jahrzehnte am Leibe behalten müssen, weil wir als Besatzung in Libyen oder am Polarkreis säßen; ein verlorener Krieg würde uns wohl in einem sibirischen Bergwerk sehen. (S. 157)

Nach dem Krieg macht er eine Ausbildung zum Lehrer, die ihn nicht wirklich fordert.

[Schwarzmarkt braucht Zeit.] Die aber hatte ich damals so wenig wie heute, obwohl mir der Unterricht wenig raubte; er bot nichts, das zu selbständigen Studien reizte, und er fand nur am Vormittag statt. Ich brauchte die Zeit, um mein Liebesbriefleben weiterzuführen, um für den Kriegsroman der nicht gelingen wollte, immer neue Anfänge zu schreiben, in Antiquariaten zu sitzen, von denen es mehrere gab, die reichbestückt und nicht teuer waren, vor allem aber, um etwas für meine Bildung zu tun. Von der Literatur war ich, ohne ihr untreu zu werden, auf die Philosophie gekommen. (S. 319)

Die neue Zeit ist auch Zeit zum Lesen, Zeit um Neues zu lesen.

Wir hatten viel aufzunehmen. Aus Ost und West wurde Weltliteratur angeboten. Die unter Hitler verbotene Moderne war zu erschließen. Zeitungen und Zeitschriften waren voll von Entdeckungen, vor allem auch aus der Literatur des Exils. Das Feuilleton der Neuen Zeitung war uns jahrelang aktueller Ratgeber, aber auch Lancelot, der Bote aus Frankreich, der Aufbau aus Ost-Berlin und die vielen Umschauen, Revuen und Rundschauen zeigten uns Dilettanten, was wir alles nicht wußten und wie vielfältig das geistige Leben war. (S. 346f.)

Erschütternd ist, was zum Unbekannten zählt:

Von ihm [Thomas Mann] in den Monaten seiner Gefangenschaft erstmalig erfahren. Dort war ihm ein Verleger Gesprächspartner gewesen, und die beiden hatten sich Bücher, die ihnen fehlten, gegenseitig erzählt. Darunter war auch der Tonio Kröger gewesen, dessen Geschichte nun auch ich kennenlernte, bevor ich das Buch in die Hände bekam. (S. 347)

Das Buch schließt im April 1951, als nach der Sprengung des Berliner Stadtschlosses auf dem nun leeren Platz eine Tribüne für die Parteiführung errichtet wird.

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